200 000 neue Fichen

30. Juni 2010

GPDel legt endlich Bericht zum Staatsschutzinformationssystem ISIS vor

Harte Kritik an der Fichierung beim Bund: Der Nachrichtendienst hat laut dem Aufsichtsgremium jahrelang die vorgeschriebene Pflege der Staatsschutz-Datenbank vernachlässigt. Dafür sammelte er laufend neue Einträge: Heute sind 200'000 Personen registriert.

Das neue Urteil der parlamentarischen Oberaufsicht ist brisant: Sie habe «Zweifel an der Richtigkeit und Relevanz der Daten» in der Datenbank, schreibt sie. Der ehemalige Dienst für Analyse und Prävention (DAP) habe den gesetzlichen Anforderungen an die Qualitätssicherung der Daten «in keiner Art und Weise entsprochen».

Verdoppelung der Einträge

Das Resultat: Heute sind nach Angaben der GPDel 120'000 Personen in der Datenbank ISIS registriert - zudem ungefähr 80'000 sogenannte Drittpersonen. Letztere sind lediglich registriert, weil sie einer Verbindung zu einer registrierten Person oder zu einer Meldung in der Datenbank haben. Ende 2004 waren es 60'000 registrierte Personen.

Bis Ende 2009 war der DAP für die Datenbank zuständig. Er gehörte bis Ende 2008 zum Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), danach zum Verteidigungsdepartement (VBS). Seit Anfang 2010 ist der neue Nachrichtendienst des Bundes (NDB) zuständig. Mit ein Grund für die Untersuchung der GPDel war die Fichierung von Basler Grossräten im Jahre 2007.

Daten aus Überwachungen werden nicht mehr an die Auftraggeber übermittelt, sondern zentral beim Bund gespeichert und bis zu 30 Jahren aufbewahrt.

Qualität der Daten nicht überprüft

In der Datenbank sollten nur Personen registriert sein, die staatsschutzrelevant sind. Unter anderem deshalb sieht das Gesetz eine periodische Beurteilung von Einträgen spätestens fünf Jahre nach der ersten Meldung vor. Die GPDel geht davon aus, dass diese zwischen Ende 2004 und Ende 2008 nicht durchgeführt wurden. Grund waren unter anderem technische Probleme.

Die Regeln bei der Erfassung hätten zudem dazu geführt, dass keine genaue Prüfung stattfand, ob eine Person wirklich in die Datenbank gehört, stellte die GPDel weiter fest. Auch seien systematisch falsche Daten eingetragen worden. Die GPDel wirft dem DAP eine falsche Prioritätensetzung vor: Anstatt die Qualität der vorhandenen Daten zu prüfen, konzentrierte er sich auf die Erfassung neuer Daten.

Bis Ende Oktober 2010 muss der Bundesrat zu 17 Empfehlungen der GPDel Stellung beziehen.

Urs von Daeniken abgesägt

Das erste greifbare Resultat des Berichts zu ISIS ist der Rücktritt Urs von Daenikens als Reorganisator der Bundesanwaltschaft. Aufgrund schwerer Vorwürfe der GPDel an seine Adresse entzog ihm die GPK das Vertrauen, und am 2. Juli 2010 trat er zurück. Er bleibt aber noch 18 Monate auf der Lohnliste des EJPD. Gleichentags hat der Direktor des NDB, Markus Seiler, eine «restriktivere Linie» für den Umgang mit der Staatsschutz-Datenbank Isis verordnet. Ab sofort wird nur noch fichiert, wer in einer Prüfung als Gefahr für die Sicherheit der Schweiz taxiert wurde. Eine derartige Praxisänderung wäre aber schon vor 2 Jahren, nach Bekanntwerden der ersten ungerechtfertigt fichierten Personen, angezeigt gewesen.

Eingebürgerte in Staatsschutzdatenbank

Der Inlandgeheimdienst DAP kontrolliert alle Eingbürgerungswilligen und registriert sie systematisch in der Verwaltungsdatenbank Isis02. Schnell wandern Personendaten von der Verwaltungsdatenbank Isis02 in die Datenbank Isis01, in welcher Personen registriert sind, die als Gefahr für die Schweiz betrachtet werden. Mit zwei weiteren Meldungen zur selben Person geschieht dieser Datentransfer automatisch.

Unbekannte Anzahl weiterer Fichen in den Kantonen - Datenschützer wollen durchgreifen

In vielen Kantonen existieren auch kantonale Staatsschutzdatenbanken. Die genaue Zahl dieser Fichen kennen die kantonalen Datenschützer nicht. «Im Kanton Bern waren es vor zwei Jahren rund 1800 Datensätze - doch es sind sicher mehr fichierte Personen», sagt der Datenschutzbeauftragte Markus Siegenthaler. Weil die Aufsicht beim NDB versagt hat, wie der GPDel-Bericht zeigt, wollen die Datenschützer jetzt handeln. Sie verlangen eine starke Aufsicht im Kanton. Deshalb haben sie eine Arbeitsgruppe «Innere Sicherheit» eingesetzt. «Es muss die Frage geklärt werden, welche Kompetenzen die Datenschützer auch ohne Zustimmung vom Bund haben, um Daten zu prüfen», sagt Aargaus Datenschützerin Kersten, Leiterin der Arbeitsgruppe. Bis zum Herbst soll ein Bericht vorliegen.

«Die Politik hätte früher reagieren sollen»

Bundesrat Ueli Maurer hat am 7. Juli 2010 Stellung genommen zur Kritik, der Nachrichtendienst habe in den vergangenen Jahren im Umgang mit Daten die Gesetze nicht eingehalten. Er versprach Korrekturen, verteidigte aber gleichzeitig die Arbeit des Staatsschutzes. «Der Nachrichtendienst hat jahrelang so gearbeitet, ohne dass die Politik intervenierte», sagte Maurer. «Unsere Mitarbeiter konnten davon ausgehen, dass sie ihren Job richtig machen.»

«Das ist schon ein starkes Stück», sagt Anita Fetz dazu. «Ich erwarte von einem Nachrichtendienst, dass er sich präzise ans Gesetz hält, ohne dass die Politik da immer nachschauen muss. Alles andere ist verfassungswidrig», so die Basler SP-Ständerätin.

«Das ist sehr blauäugig von Maurer», so der grüne Zürcher Nationalrat. Vischer sieht in Maurers Stellungnahme aber auch Kritik an den verantwortlichen Bundesräten. Und das geht von Samuel Schmid über Christoph Blocher bis zu Eveline Widmer-Schlumpf. Wenn schon Aufsicht, dann sind auch die Departementsvorsteher in der Pflicht.

Maurer will mit den gleichen Leuten weitermachen

Maurer gestern zur Personalfrage: «Ein grosses Köpferollen löst die Probleme nicht, da hätte die Politik früher reagieren müssen. Man kann nicht Leute 10 Jahre im Glauben lassen, sie machen alles gut und ihnen dann die Köpfe abhauen. Das war im Mittelalter so.»

Auch hiermit löst Maurer nur Kofpschütteln aus. «Das ist absurd, es braucht neue Köpfe», fordert Vischer vehement. Gleich tönt es bei Fetz. «Das betrachte ich als vollkommen falsch. Das sind ja zum Teil noch die gleichen Leute wie Anfangs 90er-Jahre.»

Ebensowenig kommen die Beteuerungen des neuen Chefs des Nachrichtendienstes NDB an, er wolle innerhalb seiner Behörde für einen «Kulturwandel» sorgen. Fetz winkt ab: «Mit den gleichen Leuten halte ich das für nicht möglich.»

Die Ständerätin geht sogar noch weiter. Sie fordert in der heiklen Behörde des Nachrichtendienstes nicht nur neue Köpfe, sondern einen ständigen Wechsel: «Die Leute müssten gestaffelt alle fünf Jahre ausgewechselt werden. Nur so kann Betriebsblindheit und Gruppendruck verhindert werden.»

Alle wollen Einsicht in ihre Fichen

«Seit dem Bericht der Geschäftprüfungsdelegation erhalten wir täglich 12 bis 20 Einsichtsgesuche», sagte der eidgenössische Datenschutzbeauftragte Hanspeter Thür in einem am Freitag publizierten Interview mit der «Basler Zeitung» und der «Mittelland Zeitung».

Schweizer Fichen könnten bald die Richter in Strassburg beschäftigen

Am 26. Januar 2008 wird in Basel eine unbewilligte Demonstration gegen das Weltwirtschaftsforum (WEF) durch die Polizei unterbunden. 66 Personen kommen vorübergehend in Haft, unter ihnen der polnische Journalist Kamil Majchrzak. Die politische Nachbearbeitung der Polizeiaktion ergibt später, dass Majchrzak zu Unrecht in Gewahrsam genommen worden ist - und dass beim Staat offenbar Einträge über den Journalisten existieren, die diesen als «international agierenden und gewaltbereiten Globalisierungsgegner» ausweisen. Eine detaillierte Einsicht in ISIS wurde bisher verwehrt, ein Einsichtsgesuch ist momentan vor Bundesgericht hängig. Bei einer abermaligen Abweisung wird der Europäische Gerichtshof angerufen.

Geänderte Verordnung über den Nachrichtendienst des Bundes seit 1. Oktober in Kraft

Am 18. August 2010 hat der Bundesrat mit Art. 35 und 35 a der Verordnung über den Nachrichtendienst des Bundes Bestimmungen zur Kontrolltätigkeit von kantonalen Instanzen erlassen. Allerdings ist diese seit 1. Oktober 2010 wirksame Änderung ein zahnloser Tiger: Kantonale Stellen müssen jedes einzelne Einsichtsgesuch begründen, und die Dateneinsicht kann ohne Angabe von Gründen verweigert werden.

Stellungnahme des Bundesrats zum Bericht der GPDel

Am 20. Oktober 2010 hat der Bundesrat Stellung zum Bericht der GPDel bezogen. Er ist der Ansicht, dass der Staatsschutz grundsätzlich gut arbeite, und dass nur wenige Problemfälle vorlägen.

Er folgt einzelnen Empfehlungen der GPDel, so werden alle Daten, die vor fünf Jahren oder früher erfasst wurden und seither keiner Gesamtbeurteilung unterzogen worden sind, provisorisch gesperrt. Weiter wird das Programm «Fotopasskontrolle» eingestellt, allerdings werden nicht alle als Drittpersonen erfassten Passinhaber automatisch gelöscht, und das VBS wird ein Nachfolgeprojekt für «Fotopasskontrolle» ausarbeiten. Auch der Empfehlung, den Einsatz der personellen Ressourcen neu zu regeln, will der Bundesrat folgen. Neu soll Qualität statt Quantität Priorität haben. Zudem will der Bunderat Verwaltungsdaten in Zukunft in einer eigenen Datenbank speichern. Hingegen lehnt der Bundesrat eine gesetzliche Definition von «Drittpersonen» ab. Ein besseres Einsichtsrecht soll spätestens ab 2012 im BWIS-Nachfolger «Nachrichtendienstgesetz» erfolgen. Die Aufsicht über ISIS schliesslich wird um eine Stelle aufgestockt.

Einsicht in Fichen wird immer noch verunmöglicht

Trotz der Zusicherung des Bundesrats, mit der Revision «BWIS light» einfache und direkte Einsicht in Staatsschutzakten zu gewähren, wird bei der Bekanntgabe von Einträgen weiter geblockt, wie der Fall Anni Lanz zeigt. Statt Auskunft zu verweigern, wird argumentiert, die Informationen seien nicht mehr zugänglich.

Alt Ständerat Stadler als «Fichenbereiniger»

Am 28. Dezember 2010 gab Ueli Maurer bekannt, dass er alt Ständerat Hansruedi Stadler (Uri, CVP) als externen Verantwortlichen für die Bereinigung der Staatsschutz-Fichen eingesetzt hat.

Daten ab Januar gesperrt

Die GPDel forderte, dass der Staatsschutz die nicht überprüften Daten vorläufig sperrt und überprüft. Danach solle eine externe Person entscheiden, welche Daten zu löschen seien und welche wieder verwendet werden dürften. Mit dieser Aufgabe hat Maurer nun Stadler betraut. Die Überprüfung der Daten erfolge laufend, sagte Simon Johner, Sprecher des Nachrichtendienstes, auf Anfrage. Ab Januar würden nun Daten gesperrt. Stadler werde dann entscheiden, welche davon zu löschen seien.

Von über 210,000 auf unter 90,000 ISIS-Einträge

Am 2. Mai 2011 wurde der Jahresbericht 2010 des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) vorgestellt. Die Anzahl der Einträge in ISIS wurde von über 210,000 auf unter 90,000 reduziert, teilweise mit automatischen Löschprogrammen. Bis Ende 2012 soll die gesamte ISIS-Datenbank bereinigt sein.

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