Christian Thommen, Megafon Nr. 450
Auch 30 Jahre nach dem Fichenskandal überwachen die Staatsschützer legale politische Tätigkeiten. Die Kompetenzen sind umfassender als je zuvor und die Datenbanken wachsen exponentiell.
Im April 2019 rief der Verein grundrechte.ch unter dem Titel «Die Überwacher überwachen» dazu auf, Gesuche um Einsicht in die Datenbanken des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) zu stellen. Der Grund war ein einfacher: Anhand von Antwortschreiben des NDB auf Auskunftsgesuche Dritter wussten wir, dass grundrechte.ch ebenfalls bei den Staatsschnüffiern registriert ist.
Kurz vor den Sommerferien traf dann unsere umfangreiche Fiche vom NDB ein, allerdings mit vielen eingeschwärzten Stellen. Zudem wurden diverse Auskünfte aufgeschoben, das heisst, eine Antwort erfolgt erst in 3 Iahren. Detailliert aufgeführt sind etwa die aktive Teilnahme von grundrechte.ch an den Referenden gegen das Nachrichtendienstgesetz und das Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF), das Einreichen von Vernehmlassungen zu neuen Gesetzen an den Bundesrat oder das Unterstützen von bewilligten Demonstrationen.
Bei anderen Organisationen sind beispielsweise die Organisation oder die Teilnahme an Kundgebungen aufgelistet, ebenso finden sich Medienmitteilungen von Referendumskomitees und Flyer von Veranstaltungen. Dies sind allesamt politische Betätigungen, welche gemäss Artikel 5 Absatz 5 des Nachrichtendienstgesetzes (NDG) nicht erfasst werden dürfen und die der NDB offenbar trotzdem systematisch überwacht.
Keine demokratische Kontrolle
Eine Kontrolle der Sammelwut des NDB, welche diesen Namen verdient, ist nicht vorhanden. Obwohl mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz noch weitere Kontrollorgane geschaffen wurden. Dank Volltextsuche wäre es für die Kontrolleur*innen ein Leichtes, mit Suchbegriffen wie «Interpellation», «Initiative», «Referendum», «Vernehmlassung», «Demonstration» oder «Kundgebung» nicht zulässige Einträge zu finden und zu löschen, bevor betroffene Personen oder Organisationen dank eines Auskunftsbegehrens darauf stossen und Alarm schlagen. Aber sogar die unabhängige Kontrollinstanz für die Funk- und Kabelaufklärung äusserte in ihrem Jahresbericht Zweifel daran, dass sie mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, eine ausreichende Prüftätigkeit und Kontrolle gewährleisten kann.
Im Schlussbericht über die Tätigkeit des Sonderbeauftragten für Staatsschutzakten des Bundes vom 2. Mai 1996 schrieb René Bacher: «Die Nachrichtenbeschaffung entbehrte der Eigenschaft, Mittel des Staatsschutzes zu sein, sie wurde Selbstzweck im Sinne einer Vorratshaltung an Informationen, ohne dass diese später zu irgend einem Zeitpunkt und zu irgend einem Zweck verwendet wurden.» In den seither vergangen dreissig Jahren wurde zwar die Struktur und die gesetzliche Grundlage des Nachrichtendienstes mehrfach modifiziert, das Prinzip «Selbstzweck ohne Bezug zu Staatsschutz» ist aber geblieben.
Ausufernde Überwachung von Mobiltelefonen
Aber auch in anderen Feldern schlägt der NDB über die Stränge. So überwacht er etwa fleissig Mobiltelefone. Aus der Statistik 2018 des «Dienstes Überwachung Post- und Fernmeldeverkehr» geht hervor, dass der NDB im Vorjahr 74 Echtzeitüberwachungen, 314 rückwirkende Überwachungen, 1390 komplexe Auskünfte und 6621 einfache Auskünfte einforderte, wobei praktisch ausschliesslich Mobiltelefone betroffen waren. Die hohe Zahl der einfachen Auskünfte, welche etwa die Zuordnung einer IP-Adresse zu einer Person erlauben, könnte von der Kabelaufklärung herrühren.
Besonders brisant: Gemäss Art. 22 Abs. 1bis des «Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» (BÜPF) müssen die Fernmeldeanbieter dem Nachrichtendienst bei einer Anfrage alle diese Daten ohne Genehmigung durch ein Gericht oder eine andere Stelle liefern. Diese grosse Anzahl von Fernmeldeüberwachungen steht in einem scharfen Kontrast zu der Botschaft zum Nachrichtendienstgesetz vom 19. Februar 2014, wo von rund 10 bis 12 Fällen pro Jahr und Kosten für die Telefonüberwachung von etwa 500,000 Franken jährlich die Rede war.
Sammelwut bei Flugreisen
Der NDB sammelt ebenso emsig sogenannte API-Daten (Advance Passenger Information). Von knapp 9,000 Datensätzen im Jahr 2011 explodierte diese Zahl auf über 500,000 Datensätze im Jahr 2015 und stieg auf über eine Million im Jahr 2017. Seit Oktober 2016 werden alle Passagiere mit Abflug von 18 konkreten Flughäfen in die Schweiz systematisch erfasst, und am 27. Oktober 2019 kamen 17 weitere Flughäfen dazu. Der Grossteil dieser überwachten Flughäfen befindet sich im arabischen Raum, im östlichen Mittelmeer, im mittleren und Fernen Osten sowie in Afrika und Südamerika.
Gesammelt werden diese Daten gestützt auf das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG), auch wenn die Daten Schweizer Bürger*innen betreffen. Gemäss Art. 104a Abs. 5a des AIG müssten diese Daten spätestens zwei Jahre nach dem Flug gelöscht werden. Weil aber alle Daten gestützt auf Art. 104b des AIG an den NDB weitergeleitet werden, speichert dieser alle jene Daten fein säuberlich in den eigenen Datenbanken und denkt nicht daran, diese Daten jemals wieder zu löschen, schon gar nicht nach nur zwei Jahren Aufbewahrungszeit.
Im März 1990 sagte der damalige FDP-Bundesrat Kaspar Villiger im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des ersten Fichenskandals vor dem Nationalrat: «Das EMD ist kein Saustall». Wie wir heute wissen, hat er sich geirrt. Das «EMD» hat zwar seinen Namen in «VBS» geändert und die Staatsschnüffler nennen sich jetzt «Nachrichtendienst des Bundes», aber der Saustall ist geblieben.
Immer mehr Kameras im Öffentlichen Verkehr
Antennensuchlauf: Neues Hobby von Staatsanwälten
Nachrichtendienst verletzt Fernmeldegeheimnis
Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG)
jetzt spenden!