Bundesamt für Justiz
Direktionsbereich Öffentliches Recht
Bundesrain 20
3003 Bern
Bern, 29. Februar 2016
Vernehmlassung von grundrechte.ch zur Änderung des Bundesgerichtsgesetzes
Sehr geehrte Frau Bundesrätin
Sehr geehrte Damen und Herren
grundrechte.ch nimmt gerne am Vernehmlassungsverfahren zur Änderung des Bundesgesetzes über das Bundesgericht teil. Aus den nachfolgend dargelegten Gründen lehnen wir die Vorlage vollumfänglich ab.
1. Einleitende Bemerkungen
Es gehört zum Wesen eines Rechtsstaats, dass den Gerichten auf allen Stufen die benötigten Ressourcen zugeteilt werden müssen. Mit der Begründung, dass ein Gericht überlastet sei, darf nicht der Zugang zu diesem Gericht verunmöglicht werden, wie dies im vorgeschlagenen Erlass der Fall wäre. Der Rechtsstaat verkommt so zur Farce.
Das Verhältnismässigkeitsgebot und das Gleichbehandlungsgebot gelten auch für die Organisation des Gerichtswesens. Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb in verwaltungsrechtlichen Belangen weiterhin wegen Beträgen von wenigen Franken ans Bundesgericht gelangt werden könnte, nicht aber wegen einer Busse von 5,000 Franken.
Ebenso ist die Waffengleichheit im Grundsatz des fairen Verfahrens festgeschrieben und ist für die Schweiz aufgrund internationaler Verträge bindend. Dass bei Bussen von weniger als 5,000 Franken zwar die Staatsanwaltschaft, nicht aber der Verurteilte ans Bundesgericht gelangen kann, verstösst klar gegen die ERMK. Sogar eine Anschlussberufung im Sinne von Art. 401 StPO wäre ausgeschlossen.
Volk und Stände haben mit Artikel 29a BV die Rechtsweggarantie in die Verfassung aufgenommen, welche erst seit dem 1. Januar 2007 in Kraft ist. Die Änderung des Bundesgerichtsgesetzes widerspricht zwar nicht explizit im Wortlaut, aber dem Geiste nach diesem Volkswillen. Ziel der Rechtsweggarantie war eine Verbesserung des Rechtsschutzes der Bevölkerung, und die vorgeschlagene Gesetzesrevision bewirkt genau das Gegenteil, keine 10 Jahre, nachdem die Rechtsweggarantie auf Verfassungsstufe festgeschrieben wurde.
Bereits heute gibt es Ausschlüsse vom Zugang zum Bundesgericht, namentlich bei Auslieferungshaft und Auslieferungen sowie im Asylbereich. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sich das Bundesgericht nicht mit derartigen Fällen befassen müsste. Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts resp. der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts werden dennoch ans Bundesgericht weitergezogen, welches dann Nichteintreten beschliesst. Ein grosser Leerlauf mit Arbeit für das Bundesgericht und Kosten für die Beschwerdeführer ist die Folge. Mit den vorgeschlagenen Begrenzungen des Zugangs zum Bundesgericht hätte letzteres nicht weniger, sondern einfach andere, notabene sinnlose, Arbeit.
Wird in einer Beschwerdesache die Streitwertgrenze nicht erreicht, kann ein Urteil einer Vorinstanz dennoch in beschränktem Ausmass, beispielsweise wegen der Verletzung von Parteirechten, mit Subsidiärer Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden. Mit der Einheitsbeschwerde würde diese Möglichkeit wegfallen, weil die Ausschlusskriterien global wirken würden.
Auch wenn das Bundesgericht nicht mehr angerufen werden kann, ist doch in allen Fällen ein Weiterzug an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR möglich. Eine massive Zunahme der Beschwerden vor dem EGMR wird die Folge sein. Weil selbst bei banalen Fehlern, wie etwa der Verweigerung des rechtlichen Gehörs, Beschwerden direkt an den EGMR gerichtet werden müssen, wird auch die Zahl der Verurteilungen der Schweiz drastisch steigen.
Als Retter der Rechtsstaatlichkeit wird die Ausnahme präsentiert, dass bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung immer ans Bundesgericht gelangt werden könne. Wie es sich damit verhält, kann in einschlägigen Urteilen nachgeschlagen werden (diese Regelung gilt bereits in den bereits thematisierten bestehenden Ausschlüssen im Auslieferungs- und Asylbereich):
BGEr Urteil 1C_639/2015 vom 16. Dezember 2015, Erwägung 3.1:
Art. 84 BGG bezweckt die wirksame Begrenzung des Zugangs zum Bundesgericht im Bereich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Bei der Beantwortung der Frage, ob ein besonders bedeutender Fall gegeben ist, steht dem Bundesgericht ein weiter Ermessensspielraum zu. Auch bei Auslieferungshaftentscheiden kann ein besonders bedeutender Fall nur ausnahmsweise angenommen werden. In der Regel stellen sich namentlich keine wichtigen bzw. erstmals zu beurteilenden Rechtsfragen, die einer Klärung durch das Bundesgericht bedürften
Dieser Regelung kommt lediglich ein Alibi-Charakter zu, weil nur die allerwenigsten Fälle davon profitieren können.
2. Bemerkungen zu einzelnen Neuerungen
zu 2.1.2 Entlastung des Bundesgerichts von weniger bedeutenden Fällen
Künftig soll gegen Bussen bis 5,000 Franken wegen Übertretungen grundsätzlich nicht mehr beim Bundesgericht Beschwerde geführt werden können. Der Bundesrat schreibt, dass solche Bussen in der Regel auch nicht ins Strafregister eingetragen werden. Er sagt damit implizit aus, dass das Ausschlusskriterium mit der Höhe der Busse bis 5,000 Franken falsch ist. Wenn schon, müssten alle Bussen, welche nicht ins Strafregister eingetragen werden, ausgeschlossen werden. grundrechte.ch lehnt diese Regelung aber ohnehin ab.
Eine Busse, die fast CHF 5,’000 beträgt, ist für nicht sehr wohlhabende Personen angesichts der Tatsache, dass Bussen immer unbedingt ausgesprochen werden, ein Betrag von erheblicher Tragweite. Der Umstand, dass solche Strafen nicht im Strafregister eingetragen werden, spielt für jene Personen selten eine entscheidende Rolle. Es ist eine Realität, dass solch eine Busse weit über dem Monatslohn von vielen Betroffenen liegen kann, was dazu führt, dass Bussen - etwa im Vergleich zu Entscheiden, welche eine bedingte Geldstrafe zur Folge haben - trotz einem vergleichsweise geringen Betrag häufig angefochten werden. Bei solchen Entscheiden den Rechtsweg an das Bundesgericht nur unter der nicht näher bestimmten Voraussetzung zu gewähren, dass eine Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung oder aus einem anderen Grund ein besonders bedeutender Fall vorliegen muss - wobei die finanzielle Situation des Rechtssuchenden wohl keine Rolle spielen wird - stellt eine faktische Diskriminierung von Personen mit geringen finanziellen Möglichkeiten dar. Sie werden bei für sie finanziell wichtigen Entscheiden vom Rechtsweg abgeschnitten.
Mir einer Busse wird jeweils auch eine Ersatzfreiheitsstrafe festgelegt. Mitunter kann es daher um Freiheitsentzug von wenigen Tagen bis einigen Wochen gehen.
Dass bei Bussen bis 5,000 Franken zwar die Staatsanwaltschaft, nicht aber der Verurteilte ans Bundesgericht gelangen kann, verstösst gegen das Gebot der Waffengleichheit. Auch ist kein der Anschlussberufung gemäss StPO analoges Institut für die verurteilte Person vorgesehen, falls die Staatsanwaltschaft ans Bundesgericht gelangt. Es wäre dem Bundesgericht verwehrt, die Strafe zu reduzieren, sie könnte nur gleich belassen oder erhöht werden. Eine derartige Regelung spottet jeder Beschreibung und hat nichts mit einem fairen Verfahren zu tun.
Mit dem Wegfall der Subsidiären Verfassungsbeschwerde wären in Zukunft auch die meisten Verfassungsrügen ausgeschlossen, was nicht hinnehmbar ist. Wegen Verletzung von Parteirechten kassiert das Bundesgericht regelmässig Entscheide von obersten kantonalen Gerichten, und ein grosser Teil davon könnte in Zukunft nicht mehr angefochten werden. Stellvertretend für viele sei das Urteil 6B_704/2015 vom 16. Februar 2016 zitiert, welches eine Busse von 400 Franken betrifft und bei welchem die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen willkürlich nicht auf eine Berufung eingetreten ist. Das Urteil betrifft nicht etwa einen «besonders bedeutenden Fall», sondern lediglich eine Nachlässigkeit der Vorinstanz.
zu 2.1.3 Einheitsbeschwerde statt subsidiäre Verfassungsbeschwerde
Der Bundesrat schreibt, dass im Jahr 2015 lediglich 5 % der Eingänge die Subsidiäre Verfassungsbeschwerden betrafen. Daraus leitet er ab, dass dieses Rechtsmittel unbedeutend sei. Er übersieht aber, dass mit der massiven Restriktion des Zugangs zu ordentlichen Beschwerden die Zahl der Subsidiären Verfassungsbeschwerden massiv steigen würde, wenn sie weiterhin zulässig wären. Mit ihrem Wegfall wären auch fast alle Verfassungsrügen nicht mehr zulässig, weil etwa die banale Verweigerung einer Akteneinsicht keinen «besonders bedeutenden Fall», sondern lediglich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Vorinstanz darstellt.
Mit der Kombination der Beschränkung des Zugangs zum Bundesgericht und dem Wegfall der Möglichkeit, auf jeden Fall Verfassungsrügen vor dem Bundesgericht vorzutragen, würde nicht etwa die Rechtsprechung verbessert, wie der Bundesrat behauptet, sondern massiv verschlechtert. Ausbaden müssten dies der EGMR und die Schweizer Bevölkerung, welche sich bei jeder Verurteilung der Schweiz wegen der schlechten Rechtsprechung schämen müsste.
Verfassungsrügen an das Bundesgericht müssen auf jeden Fall ohne jede Einschränkung möglich bleiben.
In Bezug auf zivilrechtliche Streitigkeiten stellt die Abschaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde die wichtigste der vorgeschlagenen Änderungen dar. Gemäss dem geltenden Recht beurteilt das Bundesgericht Verfassungsbeschwerden gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen, soweit eine Beschwerde in Zivilsachen nicht zulässig ist (Art. 113 BGG). Praktische Bedeutung hat die subsidiäre Verfassungsbeschwerde bei Streitigkeiten, in denen die Streitwertgrenze von Art. 74 BGG nicht erreicht wird, insbesondere aber auch bei Beschwerden gegen Entscheide über vorsorgliche Massnahmen (Art. 98 BGG), zu welchen auch Eheschutzurteile gezählt werden. Auch soll eine Beschwerde an das Bundesgericht nur noch zulässig sein, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, oder wenn aus andern Gründen ein besonders bedeutender Fall vorliegt.
Wird diese Formel restriktiv angewendet, ist der Individualrechtsschutz nicht mehr gewährleistet, was gerade bei vorsorglichen Massnahmen und Eheschutzentscheiden eine gravierende Verschlechterung darstellen würde. In Eheschutzurteilen werden wichtige Entscheide über Kinderbelange und Unterhalt für eine beträchtlich lange Zeit und mit teilweise faktisch präjudizierender Wirkung gefällt. Die Bedeutung für die Betroffenen ist gross; häufig ist auch der Streitwert hoch. Selten jedoch stehen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Raum, und man darf realistisch gesehen nicht darauf hoffen, dass das Bundesgericht in einer angefochtenen Zuteilung der Obhut oder zu hohen resp. tiefen Unterhaltsbeiträgen einen «besonders bedeutenden Fall» sehen wird, auch wenn das kantonale Gericht einen fehlerhaften, von der bundesgerichtlichen Praxis abweichenden Entscheid gefällt hat. Die betroffenen Parteien werden auf keinen bundesrechtlichen Rechtsschutz mehr zählen können. Wenn sie es doch mit einer Beschwerde an das Bundesgericht versuchen, gehen sie ein hohes Risiko ein, keiner günstigeren Lösung und sehr hohen Kosten gegenüberzustehen.
zu 2.1.4 Besondere Regelung im Ausländer- und Asylrecht
Künftig soll das Bundesgericht in eingeschränktem Masse zu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auch dort Stellung nehmen können, wo das Bundesverwaltungsgericht bisher endgültig entschieden hat. Allerdings müsste das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Entscheid feststellen, dass es sich um eine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung handle. Es wird mit maximal 20 derartiger Beschwerden pro Jahr gerechnet.
Im Verhältnis zur grossen Zahl der Fälle, welche bisher nicht ans Bundesgericht weitergezogen werden konnten, sind diese 20 neu möglichen Beschwerden ein Klacks und rechtfertigen in keiner Weise, als «Kompensation» eine sehr grosse Anzahl von Beschwerden zusätzlich vom Zugang zum Bundesgericht auszuschliessen.
Auch bedeuten diese Fälle für die betroffenen Personen massive Einschränkungen, weil sie oftmals ihre Lebensgrundlage aufgeben und die Schweiz verlassen müssten. Es erscheint sehr zynisch, wenn der Bundesrat im Bericht schreibt, dass lediglich «weniger bedeutende Fälle» neu vom Zugang zum Bundesgericht ausgeschlossen werden sollen.
Es widerspricht der Verbesserung des Rechtsschutzes, welche Volk und Stände im Rahmen der Justizreform mit der Rechtsweggarantie beschlossen haben, wenn derartige massive Eingriffe in die persönliche Freiheit nicht mehr am Bundesgericht angefochten werden könnten.
Zu 2.3 Anpassung der Bestimmungen über die Kognition des Bundesverwaltungsgerichts
Auch die Einschränkung der Kognition des Bundesverwaltungsgerichts würde dem Geiste nach dem Volkswillen widersprechen, der mit der Aufnahme der Rechtsweggarantie in die Verfassung ausgedrückt wurde. Behörden könnten wie vor der Justizreform willkürliche Entscheide treffen, und diese könnten de facto nicht angefochten werden, weil dem Bundesverwaltungsgericht eine Beurteilung verwehrt wäre.
Besonders drastisch käme dies bei der neu vorgesehenen Überprüfung der genehmigungspflichtigen Beschaffungsmassnahmen gemäss Nachrichtendienstgesetz zu tragen, würde doch mit dem Wegfall der Ermessenskontrollen jede Überprüfungsmöglichkeit wegfallen und das Bundesverwaltungsgericht müsste jede Anfrage genehmigen.
3. Fazit
Die Vorgeschlagene Änderung des Bundesgerichtsgesetzes gaukelt eine Entlastung des Bundesgerichts vor, welche in diesem Ausmass nicht realisiert werden kann, weil sich das Bundesgericht eben weiterhin mit diesen «eingesparten» Fällen befassen müsste, wenn auch meist nur mit einem Nichteintretensentscheid. Sie bringt aber eine massive Verschlechterung der Rechtsstellung von sehr vielen Personen. grundrechte.ch lehnt diese Vorlage deshalb vollumfänglich ab.
Sofern das Bundesgericht tatsächlich überlastet ist, empfiehlt grundrechte.ch eine Steigerung der Qualität der Verfügungen und Entscheide, welche von eidgenössischen und kantonalen Behörden und Gerichten erlassen werden.
Mit freundlichen Grüssen
grundrechte.ch
Viktor Györffy, Präsident
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