Amerikanische Telecom- und Kabelkonzerne hintertreiben die Netzneutralität und verlangsamen den Datenfluss
Von Martin Suter, Sonntagszeitung
Was ist nur mit unserem Internetanschluss los? Diese Frage stellte sich Ende Januar der Chef von Iscan Online, einer texanischen Firma für Datensicherheit auf Handys. Die einst schnelle Netzverbindung über eine Glasfaserleitung funktionierte nur noch im Schneckengang.
Der Angestellte David Raphael ging dem Rätsel auf den Grund. Das Ergebnis seiner Recherche war letzten Mittwoch ein viel beachteter Blog-Eintrag, der die schlimmsten Befürchtungen von Internetkennern zu bestätigen schien: Es sah so aus, als habe der US-Internetprovider Verizon die Netzverbindung von Iscan Online absichtlich verlangsamt.
Bei seinen Tests mass Raphael nach 16 Uhr nachmittags einen Datendurchfluss von bloss 40 Kilobit pro Sekunde, was nicht einmal Breitbandniveau entspricht. Früher und zu anderen Tageszeiten hatte die Geschwindigkeit 5000 kbps betragen. Der Blogger stellte den Kriechgang allerdings nur bei Daten aus der Cloud von Iscan Online und beim Streaming von Netflix-Programmen fest.
Auf einem Bild macht sich ein Skelett über die Welt her
Er recherchierte weiter und erhielt in einem Support-Chat die Bestätigung eines Verizon-Mitarbeiters, dass Cloud-Dienste verlangsamt worden seien. Jetzt war ihm klar: «Hier führt Verizon Krieg gegen Netflix.»
Stimmt die Geschichte, dann ist sie ein erstes Beispiel dafür, dass im Titanenkampf um Netzneutralität (siehe Kasten) die amerikanischen Serviceprovider gegen die Inhaltsanbieter in die Offensive gehen. Genau das wird erwartet, nachdem die Telecom- und Kabelkonzerne Mitte Januar vor einem Berufungsgericht einen Sieg errungen haben. Im Verfahren Verizon vs. Federal Communications Commission (FCC) sprach der Richter in Washington der Fernmeldekommission das Recht ab, den Internetprovidern eine neutrale Behandlung aller Daten auf dem Netz vorzuschreiben.
Nun dürfen Verizon, AT & T, Comcast und die anderen Netzanbieter in den USA nach eigenem Gutdünken gewisse Datenströme ausbremsen oder für bestimmte Inhaltsanbieter Extragebühren verlangen. Die neue Gestaltungsfreiheit erhalten sie dank des Urteils nicht nur im Mobilfunkbereich, wo schon vorher weniger enge Vorschriften galten, sondern auch für ihre Festnetzdienste.
Wenn das Land, wo das Internet erfunden wurde, die Tür zur Providerwillkür öffnet, nimmt das der Rest der Welt zur Kenntnis. «Das hat sicher negative Vorbildfunktion», sagt der grüne Nationalrat Balthasar Glättli. Der Zürcher will in der Schweiz die Netzneutralität gesetzlich verankern (siehe Artikel unten). Davon sind die USA noch weit weg. «Es wird schlimmer werden, bevor es sich bessert», schreibt Nilay Patel auf Theverge.com über dem Bild eines Skeletts, das sich über eine Weltkugel hermacht.
Die Telcos und Kabelkonzerne geben an, sie würden ihre eigenen Internetdienste nicht bevorzugen. In der Vergangenheit haben sie jedoch wiederholt zu diskriminieren versucht: 2007 bremste Comcast den Peer-to-Peer-Dienst Bittorrent aus. 2010 blockierte Verizon Skype-Gespräche auf dem mobilen Datennetz, und 2012 versuchte AT & T, gewisse Handynutzer von Apples Facetime-Videochat auszuschliessen.
In manchen dieser Fälle musste die FCC einspringen - das könnte sie jetzt nicht mehr. Aber womöglich erhält die US-Fernmeldekommission diese Möglichkeit zurück. Das Gerichtsurteil dreht sich nur um die juristische Frage nach ihrer rechtlichen Kompetenz. Es würde reichen, wenn die FCC die Anbieter der Netzverbindung zu Endkonsumenten als «common carriers» - allgemeine Signalträger - definieren würde. Dann hätte die Kommission das Recht, ihnen die neutrale Gleichbehandlung aller Daten vorzuschreiben.
«Sie wollen uns online an der freien Rede hindern»
Das wird indes nicht einfach zu erreichen sein. Präsident Barack Obama hat sich zwar wiederholt für das Prinzip der Netzneutralität ausgesprochen. Laut Umfragen betrachtet eine grosse Mehrheit von Internetnutzern den Netzzugang als Grundservice wie Elektrizität. Doch Telcos und Kabelkonzerne verfügen in Washington über eine riesige Lobbymacht. Deswegen hat ein «Net-Neutrality»-Gesetz, wie es Demokraten im US-Kongress vergangene Woche vorschlugen, im republikanisch dominierten Repräsentantenhaus keine Chance.
«Nur die Stimme des Volkes kann den Einfluss der Industrie aufwiegen», sagt Josh Levy von der Organisation Freepress. Eine Petition an die FCC sei auf Freepress.net in zwei Wochen von über einer Million Menschen unterzeichnet worden. Zusammen mit anderen veranstaltet Levys Organisation nächsten Dienstag einen globalen «Day of Action». Er richtet sich zwar primär gegen die Massenschnüffelei der US-Geheimdienste. Doch die zwei Kampagnen seien verwandt, sagt Levy. «In beiden Fällen kommen die Kräfte der Industrie und des Staats zusammen, um uns an der freien Rede online zu hindern.»
Gemeinsam ist den zwei Anliegen auf jeden Fall, dass sie noch längst nicht verwirklicht sind.
Ob gegen Datenschnüffelei oder für Netzneutralität: Der Kampf um das freie Internet hat eben erst begonnen.
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