Die vorliegende Zusammenstellung führt die wichtigsten Punkte auf, welche von der Menschenrechtsgruppe augenauf Bern an den Polizeieinsätzen vom 19. und 26. Januar anlässlich der Anti-WEF-Demonstrationen in Bern kritisiert werden. Die Angaben basieren auf Augenzeugenberichten und Gedächtnisprotokollen, die entweder direkt bei augenauf Bern eingegangen oder vom AntiRep-Team weitergeleitet worden sind, sowie auf Beobachtungen, die Mitglieder von augenauf Bern vor Ort gemacht haben.
Die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die vorliegende Auswahl von Begebenheiten und die Auszüge aus Gedächtnisprotokollen liefern aber einen vorläufigen Überblick der Ereignisse vom 19. und 26. Januar 2008.
Die Auszüge stammen aus anonymisierten Gedächtnisprotokollen und wurden in Bezug auf Grammatik und Rechtschreibung überarbeitet. Die Genauigkeit und Korrektheit der Aussagen wurde soweit als möglich überprüft. Die Namen der VerfasserInnen sind augenauf Bern bekannt.
Präventive Festnahmen
Am 19. Januar wurden zahlreiche Personen bereits im Vorfeld der für 15.00 Uhr angekündigten Demonstration festgenommen. Gemäss unseren Informationen fanden die ersten Festnahmen bereits ab 11.00 Uhr statt. Fast alle der angehaltenen Personen konnten sich am Ort der Polizeikontrolle einwandfrei ausweisen. In vielen Fällen wurde bei den Betroffenen keinerlei Material gefunden, das auf die Teilnahme an einer Demonstration oder auf die Absicht zur Gewaltanwendung hingedeutet hätte. Dennoch wurden diese Personen festgenommen. Mehrere dieser Personen hatten nach eigenen Angaben nie vor, an der Demonstration teilzunehmen und wussten teilweise gar nicht, dass eine Kundgebung geplant war. In Anbetracht des dargestellten Sachverhaltes erscheinen die polizeilichen Eingriffe in die Bewegungsfreiheit dieser Personen willkürlich, unverhältnismässig und ohne gesetzliche Grundlage.
Festnahmepraxis
Informationsverweigerung
Die Polizei informierte bei den Festnahmen nur sehr mangelhaft über die Gründe für ihr Vorgehen. Zahlreiche Personen beklagen sich darüber, dass ihnen trotz Aufforderung kein Grund für ihre Festnahme genannt wurde.
Überdies beklagen sich verschiedene Personen darüber, dass sich PolizistInnen auch nach mehrfachem Nachfragen weigerten, ihren Namen oder ihre Dienstnummer anzugeben. In mehreren Fällen wurden Personen beschimpft oder verhöhnt, als sie die Beamten nach ihrem Namen fragten:
“Ich erkundigte mich etwas nachdrücklicher nach den Namen der beiden anwesenden Polizisten und weshalb ich auf den Posten müsse - keine Antwort. Ich wies die anwesende Polizistin darauf hin, dass sie das Schild mit ihrer Dienstnummer so trage, dass man es nicht lesen könne. Ihre Antwort: ’ich weiss’. Ich protestierte nochmals mit Nachdruck gegen die Behandlung und wies sie darauf hin, dass es völlig unverhältnismässig sei, mich zu fesseln, um meine Personalien abzuklären. Ohne weitere Kommentare wurde ich mit einem Kabelbinder gefesselt und in den Kastenwagen verfrachtet.1”
„Als ich während der Verhaftung mein Natel verlangte, um das Antirep anzurufen wurde mir das nicht gewährt. Als ich dann die Polizei aufforderte, dass ich das Recht dazu habe, ein Telefon zu machen, wurde ich auf den Boden geschmissen und habe noch eine Faust ins Gesicht bekommen, so dass meine Lippen leicht geblutet haben. Als ich daraufhin den Namen des Polizisten verlangte, sagte der Polizist nur, er heisse Hansruedi und zum Nachnamen auch Hansruedi. Daraufhin forderte ich die anderen Polizisten auf, ihren Namen zu nennen. Doch alle Polizisten sagten mir nur, sie heissen Hansruedi.2“
Unverhältnismässige Gewaltanwendung
Verschiedene Betroffene und Augenzeugen berichten von unverhältnismässiger Gewaltanwendung bei den Festnahmen. In diesem Zusammenhang wurden augenauf Bern folgende Begebenheiten gemeldet:
Auf dem Bubenbergplatz soll eine Person mehrfach mit einem Mehrzweckstock geschlagen worden sein, nachdem sie bereits auf dem Boden lag und mit Kabelbindern gefesselt war:
„Der Betreffende wurde von Zivilpolizisten auf rüdeste Art und Weise aus dem Kessel am Bubenbergplatz abgeführt (Finger in die Gurgel bohren, am Kiefer ziehen). Danach wurde er hinter dem Polizeikordon vor einem Laden auf den Boden gedrückt, mit Kabelbindern gefesselt und danach (!) mit einem Mehrzweckstock traktiert.3“
In der Junkerngasse wurden gemäss verschiedenen Augenzeugenberichten zwei Personen bei ihrer Festnahme ohne ersichtlichen Grund wiederholt mit dem Kopf gegen eine Hauswand gestossen. Dabei wurde mindestens eine Betroffene an der Stirn verletzt:
„Obwohl sie (drei jüngere Frauen) schon gefesselt oder zumindest in Fesselposition waren, wurden sie jeweils von 1-3 Polizisten grob angefasst. Ob das zum Anziehen der Fesseln war, oder im Rahmen einer Personendurchsuchung (meiner Erinnerung nach wurden sie mehrheitlich oder ausschliesslich von Männern behandelt), oder sogar einfach zum Erzwingen der Personalien-Angabe kann ich nicht sagen. Jedenfalls haben sie panikartig geschrieen, was bei den PolizistInnen ihrerseits Unruhe und ein noch härteres Vorgehen provozierte. Ich habe gesehen, wie die [zwei] Frauen gewalttätig gegen die Wand/Holztür gedrückt und auch geschlagen wurden - meiner Wahrnehmung nach auch mit dem Kopf. Ich habe entsprechende Aufschläge auch akustisch wahrgenommen. [...] Schockierend war insbesondere, dass dieses Vorgehen nicht einfach ein einmaliges und kurzes „hart Anpacken“ war, sondern eben gerade immer mehr als einfach einige Sekunden dauerte, was bei mir eben gerade den Eindruck erweckte, es handle sich hierbei um gezielte Misshandlung.4“
Verschiedene Personen beklagen sich über grobes zu Boden drücken und Fusstritte im Zuge ihrer Festnahme, obwohl sie keinen Widerstand geleistet haben.
Verschiedene Personen beklagen sich über Verletzungen am Handgelenk durch zu straff angezogene Kabelbinder, obwohl wiederholt deren Lockerung eingefordert wurde.
Eine weibliche Person wurde von einem männlichen Polizisten durchsucht, obwohl sie ausdrücklich verlangt hat, eine Polizistin solle dies tun.
„Nach weiteren 20 Minuten wies mich ein Polizist an, ich solle zu ihm kommen. Wir entfernten uns ein paar Meter vom Kreis (in der Nähe vom Kiosk, Kino Eingang neben Markthalle). Dort forderte er mich auf, meinen Ausweis zu zeigen. (...) Dann nahm er sich meine Tasche vor und nahm jeden einzelnen Gegenstand in die Hand. Zum Teil intime Sachen, wie Tampons und mein Notizbuch. Dann sagte er mir, ich solle die Arme ausstrecken, weil er mich durchsuchen möchte. Als ich ihm sagte, dass es mir lieber wäre, wenn dies eine Frau machen könnte, sagte er: ’Das geht nicht, die Kollegin hat im Moment keine Zeit.’ Darauf durchsuchte ER mich.5“
Bedingungen während der Festhaltung und den Durchsuchungen
Aus den bei augenauf Bern eingegangenen Berichten ergeben sich folgende Kritikpunkte zu den Bedingungen in den Festgenommenen-Sammelstellen:
Insgesamt ist die unverhältnismässig lange Dauer der Festhaltung bei widrigen Verhältnissen zu kritisieren. Personen wurden bis zu zehn Stunden bei tiefen Temperaturen in Aussenzellen festgehalten. Sitzen war nur auf dem teilweise feuchten und mit Urin verunreinigten Betonboden möglich. Da bis zu 60 Personen in den Zellen zusammengesperrt wurden, war es dort zeitweise sehr eng.
Grundlegende Bedürfnisse wurden nur bedingt respektiert. So waren Toilettengänge in vielen Fällen erst nach mehreren Stunden und massivem Protest möglich. Die Versorgung mit Wasser und Nahrung war in praktisch allen gemeldeten Fällen ungenügend. Einige Personen wurden nach eigenen Angaben bis zu acht Stunden ohne Zugang zu Wasser und Nahrung festgehalten.
Die medizinische Versorgung der festgehaltenen Personen war offenbar nur ungenügend gewährleistet. Einer verletzten Person, die an Hämophilie (Bluterkrankheit) leidet, wurde zunächst jede medizinische Betreuung verweigert, obwohl sie mehrfach auf ihre Verletzung, ihre Krankheit und die möglichen Folgen hingewiesen sowie den BeamtInnen ihren Hämophilieausweis präsentiert hatte. Erst nach längerem lautstarkem Protest von anderen Festgehaltenen wurde die Person einem Sanitätsteam übergeben. Daraufhin verbrachte die Person mehrere Tage im Krankenhaus.
Viele der festgenommenen Personen mussten sich bei der Durchsuchung ohne ersichtlichen Grund vollständig entkleiden. Dies ist laut kantonalem Polizeigesetz nur dann legitim, wenn das Prozedere für die Abwehr einer Gefahr an Leib und Leben unabdingbar ist.
Zahlreiche festgenommene Personen mussten sich unnötigen erkennungsdienstlichen Massnahmen unterziehen. So wurde ein Grossteil der Festgenommenen fotografiert. Für diese Massnahme scheint jede Begründung zu fehlen. Auch auf wiederholte Nachfrage wurden die betroffenen Personen nicht über Zweck und Verwendung der erhobenen Daten informiert.
Eine Person, die bereits auf der Autobahn Richtung Bern angehalten und mitgenommen wurde, musste nach eigenen Angaben Fingerabdrücke und eine DNA-Probe entnehmen lassen. Ihr wurde als Begründung der Verdacht auf versuchten Landfriedensbruch genannt, obschon sie zu diesem Zeitpunkt die Stadt Bern noch nicht einmal betreten hatte.
Die festgehaltenen Personen hatten offenbar zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, ein Telefongespräch zu führen. Auch minderjährigen Personen blieb es über Stunden verwehrt, ihre Eltern über die Festnahme zu informieren. Entsprechende Nachfragen von Eltern wurden von der Polizei teilweise nicht oder falsch beantwortet, so dass die Eltern während Stunden über den Verbleib ihrer Kinder im Ungewissen waren.
Mindestens drei Personen wurden gemäss mehrerer übereinstimmender Angaben vom Gebäude aus mit Wasser übergossen, nachdem sie auf eine Mauer der Aussenzelle geklettert waren und Zugang zu Toiletten, Wasser und Nahrung eingefordert hatten. Danach wurden sie weiterhin in der Aussenzelle festgehalten.
Mehrere Personen wurden nach eigener Aussage von anwesenden PolizistInnen beschimpft und verbal erniedrigt.
Des Weiteren wurden mehrere Personen gemäss ihrer eigenen Angaben während der Festhaltung von PolizistInnen mit deren privaten Handys fotografiert.
Zu den Bedingungen während der Festhaltung ist anzumerken, dass diese offenbar während der Anwesenheit von Regierungsstatthalterin Regula Mader merklich besser waren. Mehrere Personen, die sich in einer Aussenzelle der Waisenhauswache befanden, berichten übereinstimmend, dass unmittelbar vor dem Eintreffen von Frau Mader erstmals Wasserflaschen in die Zelle abgegeben und Toilettengänge erlaubt wurden. Nachdem Frau Mader den Bereich der Aussenzelle wieder verlassen hatte, kehrten die anwesenden BeamtInnen wieder zur vorherigen unangemessenen Praxis zurück.
„Wir mussten bis 21.00 Uhr, also 8 Stunden in der Kälte ausharren. Wir bekamen nichts zu essen. Ca. 30 Halbliterflaschen Mineralwasser bekamen wir während der Anwesenheit von Frau Mader. In dieser Zeit durften wir auch aufs WC. Regula Mader befand sich etwa zweimal an der Zellentür und hielt sich einmal während ca. 10 Minuten in unserer Arrestzelle auf. Dabei wurde sie mit Klagen regelrecht überhäuft, worauf sie einerseits auf ihre Kontrollaufgabe hinwies, andererseits aber auch zu relativieren versuchte. Ihre für uns sichtbare Präsenz können wir (mangels Uhr) auf den Zeitraum zwischen 13.30 Uhr und 15.00 Uhr nur schätzungsweise eingrenzen. Nach 14.30/15.00 Uhr bis zu unserer Entlassung hatte die Regierungsstatthalterin keinen (Blick- oder anderen) Kontakt mehr zu den Insassen unserer Zelle. Wir bekamen in dieser Zeit auch kein Wasser mehr und die Frauen durften erst nach mehreren Stunden lautstarken Protests wieder auf die Toilette. Die Männer pissten in eine Ecke.6“
Fazit
Insgesamt kritisiert augenauf Bern an den Polizeieinsätzen folgende Hauptaspekte: Neben zahlreichen Missständen in den Festgenommenen-Sammelstellen und gewaltsamen Übergriffen bei den Festnahmen verurteilt augenauf Bern generell das Vorgehen der Polizei an den beiden Demonstrationstagen. Insgesamt wurden über 250 Personen vorübergehend festgenommen, ohne dass es zu irgendeinem Zeitpunkt zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen wäre. Die Festnahmen erfolgten meist ohne Angabe eines Grundes und erscheinen völlig willkürlich. Die betroffenen Personen wurden bei ihrer Durchsuchung und Festhaltung einem erniedrigenden und menschenverachtenden Prozedere unterworfen, ohne dass bei den meisten auch nur der Verdacht auf eine Strafhandlung vorlag. Insgesamt wurde bei den Festnahmen und der darauf folgenden Behandlung die Unschuldsvermutung faktisch ausser Kraft gesetzt.
[1] Gedächtnisprotokoll 27
[2] Gedächtnisprotokoll 37
[3] Augenzeugenbericht 5
[4] Augenzeugenbericht 12
[5] Gedächtnisprotokoll 3
[6] Gedächtnisprotokoll 16
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