«Jugendschutzartikel» ist wohl verfassungswidrig

5. Februar 2013

Von Janina Gehrig, der Bund

Das Ausgehverbot der Gemeinde Kehrsatz schiesst laut Jurist Pierre Tschannen übers Ziel hinaus. Um Beschwerde einzureichen, müsste aber ein Anwendungsfall provoziert werden.

Der neue «Jugendschutzartikel» der Gemeinde Kehrsatz hat heftige Diskussionen ausgelöst. Doch ist das Reglement, das es unter 16-Jährigen seit Anfang Jahr untersagt, sich zwischen 22 und 6 Uhr «ohne Begleitung ihrer Sorgeverantwortlichen» im öffentlichen Raum aufzuhalten, tatsächlich verfassungswidrig?

Das Reglement tangiere offensichtlich Grundrechte wie die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit, sagt Pierre Tschannen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Bern. Grundsätzlich müsse jedes Gesetz, damit es verfassungskonform sei, eine gesetzliche Grundlage erfüllen und zudem durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein. Für Tschannen schiesst das Gesetz klar übers Ziel hinaus: «Wenn es erlassen wurde, um Vandalismus und Lärmstörungen zu verhindern, was im öffentlichen Interesse liegt, gibt es aber das Problem der Verhältnismässigkeit.» Schliesslich würde nur eine Minderheit der Jugendlichen Probleme verursachen.

«Das tut mir in den Ohren weh»

Auch laut Martin Buchli, Experte für Polizeirecht und Autor des Handbuchs «Polizeiaufgaben der Gemeinden», ist das Gesetz «klar unzulässig, wenn es zum Schutz vor Lärm und Straftaten erlassen wurde». Als «sehr problematisch» bezeichnet Buchli die Auslegung des Gesetzes als eine Art «Jugendschutz». Ähnlich sieht es Tschannen: «Falls es hier um staatliche Fürsorge für Jugendliche geht, wäre das ein Armutszeugnis für die Gesellschaft.» Der Jurist kritisiert zudem die fehlende «Rechtssicherheit». Die Kehrsatzer Behörden hatten das Ausgehverbot nach der Protestaktion vor den Medien mit den Worten relativiert, anständige Jugendliche seien nicht davon betroffen. «Das tut mir in den Ohren weh», sagt Tschannen. Ein Gesetz, das vorbehaltlos formuliert sei, solle nun nach Gutdünken gehandhabt werden.

Im Unterschied zum Kanton Zürich, wo das Verwaltungsgericht 2009 ein ähnliches Reglement der Gemeinde Dänikon als verfassungswidrig erklärt hatte, liegt im Kanton Bern noch kein solches Urteil vor. Die Beschwerdefrist gegen den Erlass des Gesetzes ist bereits abgelaufen. Eine Beschwerde könne nun nur noch indirekt über einen Anwendungsfall provoziert werden, sagt Tschannen. «Falls es zu einem Gerichtsfall kommen sollte, stehen die Chancen aber nicht schlecht, dass so entschieden wird, wie es das Verwaltungsgericht in Zürich tat.» Dann müsste die Gemeinde Kehrsatz das Reglement anpassen.

Dass Ausgangssperren national verboten werden, wie es SP-Nationalrat Cédric Wehrmut kürzlich angeregt hat, hält Buchli für «absurd». Der Bund sei für die kommunalen Ortspolizeireglemente nicht zuständig.

 

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