Zustellfiktion hat Grenzen

2. Oktober 2019

Die Zustellfiktion regelt die Frage, ab welchem Zeitpunkt Verfügungen und Entscheide, die mit eingeschriebener Post oder als Gerichtsurkunden spediert werden, als zugestellt zu gelten haben. Wird eine Sendung nicht innerhalb der siebentägigen Abholfrist abgeholt, so wird angenommen, dass sie am letzten Tag dieser Frist zugestellt wurde. Für die Anwendung der Zustellfiktion verlangt die Rechtsprechung, dass der Adressat mit einer «gewissen Wahrscheinlichkeit» annehmen kann bzw. damit «rechnen muss», dass ihm ein behördlicher Akt zugestellt wird. In Strafverfahren hat die Zustellfiktion oft zur Folge, dass entweder auf Einsprachen wegen Verspätung nicht eingetreten wird oder dass Einsprachen nach dem Verpassen eines Termins mit der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht als zurückgezogen gelten.

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In einem neuen Entscheid hat das Bundesgericht erkannt, dass in einem einfachen Verfahren eine betroffene Person nach dem Verstreichen von 6 Monaten nicht mehr im Sinne der Zustellfiktion damit rechnen muss, dass eine eingeschriebene Postsendung eintreffe. Wörtlich hielt es in BGE 6B_674/2019 vom 19. September 2019 in Erwägung 1.4.3 fest: «Mit Blick auf den in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht komplizierten Gegenstand des Vorverfahrens sowie die Untätigkeit der Behörde kann nicht erwartet werden, dass der Beschwerdeführer nahezu ein Jahr in jedem Zeitpunkt seine Erreichbarkeit sicherstellte und auch kürzere Ortsabwesenheiten der Behörde meldete, um keinen Rechtsnachteil zu erleiden.» Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt muss sich daher mit einer Einsprache gegen einen Strafbefehl auseinandersetzten.

 

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