BGE 5A_236/2014 fürsorgerische Unterbringung altes Gutachten

11. April 2014

Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

{T 0/2}

5A_236/2014

Urteil vom 11. April 2014

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter von Werdt, Präsident,

Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,

Gerichtsschreiber Zbinden.

Verfahrensbeteiligte

X.________,

Beschwerdeführerin,

gegen

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB Thun.

Gegenstand

fürsorgerische Unterbringung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, Zivilabteilung, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, vom 20. Februar 2014.

Sachverhalt:

A.

Am 18. Juni 2013 wurde X.________ bei schwerer Mangelernährung und Hyponatriämie in die Klinik des Spitals A.________ eingewiesen. Gemäss Beurteilung von Dr. med B.________ vom 21. Juni 2013 leidet sie an einer längjährigen Alkoholabhängigkeitserkrankung mit psychischen, somatischen und sozialen Folgeschäden, schwerster Mangelernährung und Dyselektrolytämie (differentialdiagnostisch) an Alzheimer-Demenz (ICD 10 F10.2; F10.60); überdies besteht laut der Ärztin der Verdacht auf Korsakow-Syndrom. Das in einem früheren Verfahren eingeholte Gutachten des Psychiatriezentrums C.________ (PZM) vom 12. Oktober 2012 hält fest, dass X.________ sowohl die Kriterien des gesetzlichen Schwächezustandes der Geistesschwäche als auch der Trunksucht erfülle. Am 8. August 2013 ordnete die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Thun gestützt auf Art. 426 ZGB die fürsorgerische Unterbringung von X.________ im D.________ an. Gemäss Leitbild dieser Einrichtung steht der Mensch mit seinen körperlichen, seelischen, kulturellen und sozialen Bedürfnissen und Wünschen im Mittelpunkt. Ziel der Einrichtung ist ein lebensbejahendes Umfeld, auch in belastenden und herausfordernden Lebenssituationen, selbst bis zum Tod. Besondere Aufmerksamkeit wird auf die Wahrung der Autonomie und der grösstmöglichen Selbstbestimmung des Menschen gelegt, was mit modernen Wohn-, Pflege- und Betreuungskonzepten angestrebt wird.

B.

Mit Verfügung vom 6. Februar 2014 bestätigte die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Thun im Rahmen der periodischen Überprüfung die fürsorgerische Unterbringung. Dagegen beschwerte sich X.________ am 13. Februar 2014 beim Obergericht des Kantons Bern, Zivilabteilung, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht. Am 20. Februar 2014 hörte das Obergericht die Betroffene an. In den Akten des Verfahrens befinden sich der Austrittsbericht von Dr. med. E.________ vom 3. Juli 2013, der Arztbericht von Dr. med. B.________ vom 21. Juni 2013 betreffend ein früheres Verfahren sowie der Bericht der Einrichtung D.________ vom 4. Februar 2014. Mit Entscheid vom 20. Februar 2014 wies die angerufene Instanz die Beschwerde ab.

C.

Mit Eingabe vom 20. März 2014 hat X.________ gegen den ihr am 27. Februar 2014 zugestellten Entscheid des Obergerichts beim Bundesgericht Beschwerde erhoben. Sie beantragt die sofortige Entlassung aus dem Heim D.________. Überdies ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.

Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und die Vorinstanz haben auf Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.

Nach Art. 426 Abs. 1 ZGB darf eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen (Absatz 2). Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind (Absatz 3).

2.

2.1. Das Obergericht hat erwogen, die Beschwerdeführerin sei aufgrund ihres psychischen Schwächezustandes mit chronischer Selbstgefährdung bei Alkoholabhängigkeit und demenzieller Entwicklung mit schwerster Mangelernährung und lebensbedrohlicher Entgleisung der Blutsalzwerte auf persönliche Fürsorge angewiesen, die ihr im jetzigen Zeitpunkt nur in stationärem Rahmen gewährt werden könne. Die Beschwerdeführerin benötige nach wie vor Führung und Kontrolle, was die Essgewohnheiten und das Trinkverhalten anbelange. Bei sofortiger Entlassung aus dem Heim D.________ sei angesichts der Krankheitsuneinsichtigkeit und der fehlenden Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin schnell wieder verlieren und erneut in einen lebensbedrohlichen Gesundheitszustand abgleiten würde. Das Gericht stützte seine Meinung auf den Austrittsbericht von Dr. med. E.________ vom 3. Juli 2013, den Arztbericht von Dr. med. B.________ vom 21. Juni 2013 betreffend ein früheres Verfahren sowie den Bericht der Einrichtung D.________ vom 4. Februar 2014. Zudem stellten die zum Spruchkörper gehörenden Fachrichter Dr. med. F.________ sowie Fachrichterin G.________ der Beschwerdeführerin Fragen (Protokoll vom 20. Februar 2014).

Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie fühle sich stark genug, um in ihrer Wohnung zu leben und sei überdies in der Lage, selbstständig für sich einzukaufen. Bei einem allfälligen Bedarf an Hilfe könne sie auf hilfsbereite Nachbarn zählen.

2.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund bzw. mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft es unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254; siehe auch 136 III 518 E. 3 S. 519; bestätigt durch die II. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts in 5A_469/2013 vom 17. Juli 2013 E. 2.2).

2.3. Das Obergericht verweist unter anderem auf die Alkoholabhängigkeit der Beschwerdeführerin und geht damit von einer psychischen Störung aus (zur Alkoholerkrankung als psychische Störung: BGE 137 III 289 E. 4.2 S. 291). Nach Art. 450e Abs. 3 ZGB muss bei psychischen Störungen gestützt auf ein Gutachten einer sachverständigen Person entschieden werden. Das in Beachtung von Art. 450e Abs. 3 ZGB einzuholende Gutachten hat es der Beschwerdeinstanz zu ermöglichen, die sich aus Art. 426 Abs. 1 ZGB ergebenden Rechtsfragen zu beantworten (vgl. BGE 137 III 289 E. 4.5, aArt. 397e Ziff. 5 ZGB betreffend; siehe auch 5A_189/2013 vom 11. April 2013 E. 2.2). Ob eine Expertise den Voraussetzungen von Art. 450e Abs. 3 ZGB entspricht, ist Rechtsfrage, die der freien Prüfung durch das Bundesgericht unterliegt. Ist kein Gutachten vorhanden oder erweist sich dieses als unvollständig, liegen mit anderen Worten offensichtliche rechtliche Mängel vor, hebt das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid auf. Erweist sich das Gutachten als unvollständig, ist es durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen zu ergänzen (Urteil 5A_879/2012 vom 12. Dezember 2012 E. 4; 5A_469/2013 vom 17. Juli 2013 E. 2.3; zum Ganzen: zur Publikation bestimmtes Urteil 5A_872/2013 vom 17. Januar 2014 E. 6.2.2).

2.4. Das gestützt auf Art. 450e Abs. 3 ZGB einzuholende Gutachten hat sich insbesondere über den Gesundheitszustand der betroffenen Person, aber auch darüber zu äussern, wie sich allfällige gesundheitliche Störungen hinsichtlich der Gefahr einer Selbst- bzw. Drittgefährdung oder einer Verwahrlosung auswirken können und ob sich daraus ein Handlungsbedarf ergibt (BGE 137 III 289 E. 4.5). In diesem Zusammenhang interessiert insbesondere, ob ein Bedarf an der Behandlung einer festgestellten psychischen Erkrankung bzw. an Betreuung der betroffenen Person besteht. Wird ein Behandlungs- bzw. Betreuungsbedarf bejaht, ist weiter wesentlich, mit welcher konkreten Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der betroffenen Person bzw. von Dritten zu rechnen ist, wenn die Behandlung der gutachterlich festgestellten Krankheit bzw. die Betreuung unterbleibt (zum Erfordernis der konkreten Gefahr: Urteile 5A_312/2007 vom 10. Juli 2007 E. 2.3; 5A_288/2011 vom 19. Mai 2011 E. 5.3). Im weiteren ist durch den Gutachter Antwort darauf zu geben, ob aufgrund des festgestellten Handlungsbedarfs eine stationäre Behandlung bzw. Betreuung unerlässlich ist. Dabei hat der Experte auch darüber Auskunft zu geben, ob die betroffene Person über glaubwürdige Krankheits- und Behandlungseinsicht verfügt. Schliesslich hat der Experte zu beantworten, ob eine Anstalt zur Verfügung steht und wenn ja, warum die vorgeschlagene Anstalt infrage kommt (siehe zum Ganzen zur Publikation bestimmtes Urteil 5A_872/2013 vom 17. Januar 2014 E. 6.2.2 unter Hinweis auf BGE 137 III 289 E. 4.5; BGE 112 II 486 E. 4c S. 490; 114 II 213 E. 7 S. 218 zur Geeignetheit der Einrichtung).

2.5. Wie sich aus den Akten ergibt, handelt es sich vorliegend um einen Entscheid der Beschwerdeinstanz im Rahmen von Art. 431 ZGB. Danach überprüft die Erwachsenenschutzbehörde spätestens sechs Monate nach Beginn der Unterbringung, ob die Voraussetzungen noch erfüllt sind und ob die Einrichtung weiterhin geeignet ist (Abs. 1). Alsdann führt sie innerhalb von weiteren sechs Monaten eine zweite Überprüfung durch; anschliessend erfolgt die Überprüfung so oft wie nötig, mindestens aber jährlich (Abs. 2).

2.6. Der auf Verfahren der fürsorgerischen Unterbringung vor der Beschwerdeinstanz anwendbare Art. 450e Abs. 3 ZGB unterscheidet nicht danach, ob es sich beim besagten Verfahren um eine Unterbringung oder eine periodische Überprüfung oder um einen Entscheid aufgrund eines Entlassungsgesuchs der betroffenen Person handelt. Unter der Herrschaft von Art. 397e Ziff. 5 ZGB in der Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 1978, in Kraft seit 1. Januar 1981 (AS 1980 31; BBl 1977 III 1) hatte der Beizug eines Sachverständigen bei jedem Einweisungs-, Zurückbehaltungs- und Aufhebungsentscheid unabhängig vom Ausgang des Verfahrens zu erfolgen (Urteil 5A_63/2013 vom 7. Februar 2013 E. 5.1.2; THOMAS GEISER, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 4. Aufl. 2010, N. 19 zu Art. 397e aZGB). Zudem wurde auch ein aktuelles Gutachten verlangt. Der Botschaft des Bundesrates und den paramentarischen Beratungen lässt sich mit Bezug auf die Auslegung der geltenden Fassung von Art. 450e Abs. 3 ZGB nichts anderes entnehmen.

2.7. Der Verwendung von Gutachten früherer Verfahren sind allein schon deshalb enge Grenzen gesetzt, weil sich der Gutachter zu den Fragen des konkreten Verfahrens zu äussern hat. Ist wie hier die Fortführung einer früher angeordneten fürsorgerischen Unterbringung zu prüfen und darüber zu befinden, ob die betroffene Person weiter in der Einrichtung zurückbehalten werden darf, so hat sich das nach Art. 450e Abs. 3 ZGB erforderliche Gutachten darüber zu äussern, ob und inwiefern in den im früheren bzw. ursprünglichen Gutachten festgestellten tatsächlichen Parametern (vgl. dazu E. 2.4) eine Änderung eingetreten ist. Aufgrund einer anderen Fragestellung kann somit nicht einfach auf das in einem früheren Verfahren eingeholte Gutachten des PZM vom 12. Oktober 2012 abgestellt werden (dazu: Urteil 5A_63/2013 vom 7. Februar 2013 E. 5.2, Art. 397e Ziff. 5 ZGB betreffend). Der Austrittsbericht von Dr. med. E.________ vom 3. Juli 2013, der Arztbericht von Dr. med. B.________ vom 21. Juni 2013 betreffend ein früheres Verfahren sowie der Bericht der Einrichtung D.________ vom 4. Februar 2014 vermögen die an ein Gutachten gestellten Anforderungen nicht zu erfüllen. Dass ein Fachrichter den Beizug eines unabhängigen Gutachters nicht zu ersetzen vermag, hat das Bundesgericht in BGE 137 III 289 E. 4.4 S. 292 bereits klargestellt. Insgesamt erweist sich der angefochtene Entscheid und das ihm zugrunde liegende Verfahren unter dem Blickwinkel von Art. 450e Abs. 3 ZGB als bundesrechtswidrig.

2.8. Dies führt zur teilweisen Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Die Sache ist zur Einholung eines den Vorgaben der bundesgerichtlichen Rechtsprechung konformen Gutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dieser wird eine Frist von 30 Tagen ab Zustellung des begründeten bundesgerichtlichen Urteils gesetzt, um die Ergänzung des Sachverhalts aufgrund der bundesgerichtlichen Vorgaben vorzunehmen und neu zu entscheiden. Wird nicht innert dieser Frist entschieden, fällt die fürsorgerische Unterbringung ohne Weiteres dahin (vgl. dazu: Urteil 5A_879/2012 vom 12. Dezember 2012). Die Vorinstanz wird überdies die Anforderungen an die Begründung des Entscheids im Lichte von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG zu beachten haben (dazu: zur Publikation bestimmtes Urteil 5A_872/2013 vom 17. Januar 2014 E. 6.2.3 mit Hinweis auf Urteil 5A_189/2013 vom 11 April 2013 E. 2.3 [in deutscher Sprache]).

3.

Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend werden keine Kosten erhoben (Art. 66 Abs. 1 BGG).

4.

Mit der vorliegenden Kostenregelung wird das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der angefochtene Entscheid aufgehoben. Die Sache wird zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuem Entscheid im Sinn der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen, die innert 30 Tagen seit Zustellung des begründeten bundesgerichtlichen Urteils neu zu entscheiden hat. Wird nicht innert dieser Frist entschieden, fällt die fürsorgerische Unterbringung ohne Weiteres dahin.

2.

Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos abgeschrieben.

3.

Es werden keine Kosten erhoben.

4.

Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB Thun und dem Obergericht des Kantons Bern, Zivilabteilung, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. April 2014

Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Der Gerichtsschreiber: Zbinden

 

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