Martin Paris zur Situation an der Notfallfront (NZZ)
Nur mit grossen Anstrengungen liesse sich die Zahl der fürsorgerischen Unterbringungen (FU) im Kanton Zürich senken, sagt der Zürcher Notfallpsychiater Martin Paris. Er plädiert dafür, die Notfall leistenden Ärzte für ihre Aufgabe zu befähigen.
Im Kanton Zürich sind die Raten fürsorgerischer Unterbringungen (FU) vergleichsweise hoch (NZZ 28. 1. 13). Sollten sie gesenkt werden?
Mich überrascht die Frage, ich habe sie mir so noch nie gestellt. Spontan würde ich sagen: Die fürsorgerische Unterbringung ist nichts Schlechtes - im Gegenteil: Auf einem Markt in Burkina Faso sah ich einen Mann, der auf dem Boden herumkroch und nach Essbarem suchte. Es handelte sich vermutlich um einen Schizophrenen ohne soziales Netz. Dort gibt es keine FU. Doch zu welchem Preis? In der Schweiz fällt niemand derart durch die Maschen - dank der FU erhalten psychisch Kranke menschliche Zuwendung. Das ist eine Errungenschaft.
Nun leiden aber nicht alle, die unfreiwillig in der Klinik landen, an einer schweren psychischen Erkrankung.
In welchem Fall der einschneidende Akt einer FU angemessen ist oder nicht, ist in der Tat eine sehr komplexe Frage.
Warum?
Statt auf fürsorgerische Unterbringung fokussiere ich lieber auf fürsorgerische Freilassung. Letztere bindet sehr viele Ressourcen. Es braucht ein grosses Engagement und einen starken Willen, sich genau zu informieren. Es ist also viel anstrengender, auf eine FU zu verzichten, als eine anzuordnen. Beim Verzicht riskiere ich, dass etwas Gravierendes passiert, bei einer FU gehe ich auf Nummer sicher. Ich weiss aber auch nie, ob die Einweisung richtig war - die Kliniken geben keine Informationen über den weiteren Verlauf heraus.
Die Statistiken deuten darauf hin, dass dort, wo Fachärzte FU anordnen, die Raten tiefer sind. Erstaunt Sie das?
Nein. Allgemeinpraktiker haben in der Regel viel mehr Respekt vor der Freilassung und weisen eher ein - weil die Kliniken mit ihren Ressourcen, Fachkompetenz und Sozialdiensten die Möglichkeiten für die Betroffenen viel sicherer beurteilen können. Allerdings bin ich skeptisch, ob alle Psychiater generell weniger häufig FU anordnen. Ob ein Arzt eher mutig entscheidet, hängt stark von seiner Sozialisation ab.
Sind Sie ein mutiger Notfallpsychiater?
Ich weiss nicht - vielleicht ist es aber Ausdruck meiner Haltung, im Fall eines Hausmeisters, der sich über den lauten Untermieter beklagt, skeptisch zu reagieren. Auch in solchen Situationen nehme ich mir deshalb Zeit für intensive Abklärungen. Ich will möglichst viel über die Lebenssituation des Betroffenen erfahren, um abschätzen zu können, ob eine FU unumgänglich ist. Gerade in solchen Fällen müssen die Gründe sehr konkret sein.
Was meinen sie mit «konkret»?
Wenn ein Schizophrener offensichtlich stark leidet, liegt eine fachgemässe Betreuung in der Klinik aus menschlichen Gründen auf der Hand. Doch sind Notfallpsychiater nicht dazu da, Störefriede wegzubringen.
Was tun Sie, wenn ein Betroffener ausser Rand und Band ist? Verabreichen Sie ihm eine Beruhigungsspritze?
Nein, das habe ich dreimal gemacht, das letzte Mal vor über 20 Jahren. Der positive Nutzen war gleich null, die Traumatisierung der Betroffenen aber gross. Inzwischen sieht man generell davon ab, auch die Sanitäter wenden keine Gewalt an. In dramatischen Situationen kann der Notfallarzt die Polizei rufen, die hie und da Handschellen und Pfefferspray einsetzt. Was ich aber betonen möchte: Das sich hartnäckig haltende Bild einer Zwangspsychiatrie, die moralisierend öffentliche Ordnung priorisiert, ist komplett veraltet. Es hat mit der Realität nichts mehr zu tun.
Sie nehmen sich jeweils viel Zeit für Abklärungen. Sind Sie eine Ausnahme?
Manchmal staune ich schon, wenn ich von Patienten höre, dass sich Kollegen zehn oder manchmal gar nur drei Minuten Zeit für ein Gespräch nehmen und dann einen Entscheid fällen.
Oft scheint der Zeitdruck allerdings gross zu sein.
Auf den Notfallstationen der Spitäler bestimmt. Aber der ambulante Notfallarzt kann sich in der Regel so viel Zeit nehmen, wie er braucht. Allerdings steht er unter dem unausgesprochenen Druck der Krankenkassen.
Ist das System für psychiatrische Notfälle im Kanton Zürich gut organisiert?
In der Stadt Zürich bietet nur das Ärztefon Psychiater auf, sonst sind auch für psychiatrische Notfälle meist Allgemeinpraktiker zuständig. Ein Problem ist, dass die meisten Ärzte - im Unterschied zu mir - nicht gerne Notfalldienste übernehmen, sich aber nicht weigern können. Der Notfalldienst sollte durch Attraktivität, nicht durch Zwang Ärzte rekrutieren. Seitens der Organisatoren wäre mehr Unterstützung hilfreich, etwa spezifische Fortbildungen zu medizinischen und juristischen Gefahren bei Nicht-Einweisung. Zudem fehlen flexible und zuverlässige ambulante Strukturen.
Was meinen Sie damit?
Bei manchen Fällen liesse sich eine Zwangseinweisung vermeiden, wenn ein Besuch, beispielsweise einer psychiatrischen Spitex, sichergestellt wäre. Aus meiner Erfahrung lassen sich aber solche Dienste nicht innert nützlicher Frist aufbieten, schon gar nicht nachts. Also: Wer Stunden, nicht Tage nach der notfallärztlichen Erstversorgung Unterstützung braucht, riskiert eine FU. Die Klinik muss in diese zeitliche Lücke springen. Es würde etwas Neues brauchen. Mit grosser Anstrengung liesse sich die Zahl der FU senken - ohne Einbusse der Sicherheit. Damit würden fraglos Traumatisierungen wegfallen.
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