BGE 5A_251/2012 Fürsorgerische Freiheitsentziehung

19. April 2012

Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

{T 0/2}

5A_251/2012

Urteil vom 19. April 2012

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichterin Hohl, Präsidentin,

Bundesrichter von Werdt, Herrmann

Gerichtsschreiber V. Monn.

Verfahrensbeteiligte

X.________,

Beschwerdeführer,

gegen

Regierungsstatthalteramt Obersimmental-Saanen, Amthaus, Schönriedstrasse 9, 3792 Saanen.

Gegenstand

Fürsorgerische Freiheitsentziehung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, Zivilabteilung, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen, vom 19. März 2012.

Sachverhalt:

A.

A.a X.________ (geb. 1954) leidet an einer bipolar-affektiven Störung und befindet sich hinsichtlich seines Alkohol- und Cannabiskonsums an der Schwelle einer Suchterkrankung. In depressiven Phasen ist er behandlungseinsichtig und bereit, Hilfe anzunehmen, während er in manischen Phasen Hilfe in Form einer störungsbezogenen medikamentösen Behandlung ablehnt. Dieser Gesundheitszustand führte seit März 2010 zu mehreren Hospitalisationen. Sodann ist X.________ verbeiständet.

A.b Während einer hypomanischen Phase verfügten Dr. med. S.________ und med. T.________ von der U.________ AG am 23. Januar 2012 eine fürsorgerische Freiheitsentziehung verbunden mit einer Einweisung in das Psychiatriezentrum A.________. Einen dagegen erhobenen Rekurs wies das Obergericht des Kantons Bern, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen, am 30. Januar 2012 ab (Verfahren FFE 12 28).

A.c Anlässlich einer Einvernahme durch den Regierungsstatthalter von Obersimmental-Saanen am 6. Februar 2012 erklärte sich X.________ bereit, freiwillig im Psychiatriezentrum A.________ zu verbleiben und sich einer Begutachtung zu unterziehen.

A.d Nachdem die behandelnden Ärzte des Psychiatriezentrums A.________ ihr Gutachten dem Regierungsstatthalter von Obersimmental-Saanen am 29. Februar 2012 abgeliefert hatten, verfügte dieser mit Verfügung vom 1. März 2012, X.________ solange im Psychiatriezentrum A.________ zurückzubehalten, bis eine neue Wohnsituation, eine geeignete Anschlussbehandlung sowie eine regelmässige ärztliche Betreuung organisiert ist. Die Austrittskompetenz übertrug er dem Psychiatriezentrum A.________.

B.

X.________ gelangte gegen diese Verfügung am 14. März 2012 an das Obergericht des Kantons Bern, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen, mit dem Begehren um Entlassung. Das Obergericht zog die Akten des erstinstanzlichen Verfahrens bei, darunter insbesondere das Gutachten von Dr. med. V.________ und Dr. med. W.________ vom Psychiatriezentrum A.________ vom 29. Februar 2012 sowie diejenigen aus dem ersten Verfahren FFE 12 28 bei, darunter eine Gefährdungsmeldung der Tochter des Betroffenen; ferner berücksichtigte es den Aufnahmebefund und den Verlaufsbericht des Psychiatriezentrums A.________ sowie eine ärztliche Stellungnahme von Dr. med. V.________ vom 16. März 2012. Sodann hörte das Obergericht den Betroffenen am 19. März 2012 an und wies den Rekurs gleichentags ab.

C.

Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 28. März 2012 (Postaufgabe 29. März 2012) wendet sich X.________ (nachfolgend Beschwerdeführer) an das Bundesgericht und beantragt, den Entscheid der Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen vom 19. März 2012 aufzuheben und ihn zu entlassen. Ferner verlangt er die gerichtliche Beurteilung seiner "Verhaftung" und eine Auskunft über die Kostenfolgen der angeordneten Massnahmen.

Der Regierungsstatthalter von Obersimmental-Saanen hat sich nicht vernehmen lassen und die Rekurskommission verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1 Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Endentscheid (Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG) betreffend fürsorgerische Freiheitsentziehung. Er betrifft eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit, die in engem Zusammenhang mit dem Zivilrecht steht und demzufolge mit Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht angefochten werden kann (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG).

1.2 Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde, soweit der Beschwerdeführer eine gerichtliche Beurteilung seiner "Verhaftung" verlangt. Inhaltlich richten sich seine Rügen gegen den Vollzug der Einweisungsverfügung vom 23. Januar 2012 (s. Bst. A.b). Dagegen stand ihm ein Rechtsmittel zur Verfügung, das er auch ergriffen hat. Ob der Beschwerdeführer seine Beanstandungen bereits im ersten Rechtsmittelverfahren vortrug, ergibt sich nicht aus den Akten. Auf jeden Fall begann die Rechtsmittelfrist für dieses Begehren mit der Zustellung der Verfügung vom 23. Januar 2012 zu laufen und endete 30 Tage später. Soweit sich der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren gegen die Verfügung vom 1. März 2012 erneut gegen die Einweisungsverfügung zur Wehr setzt, erweisen sich seine Rügen unter allen Titeln als verspätet.

Ebenfalls nicht einzutreten ist auf das Begehren um Auskunft über die Kostenfolgen der angeordneten Massnahmen, denn dieses stellt der Beschwerdeführer erstmals vor Bundesgericht; es ist neu und daher unzulässig (Art. 99 BGG).

1.3 Im ordentlichen Beschwerdeverfahren sind vor Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht alle Rügen gemäss Art. 95 f. BGG zulässig. Das Bundesgericht wendet das Recht in diesem Bereich von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und prüft mit freier Kognition, ob der angefochtene Entscheid Recht verletzt.

2.

Eine mündige oder entmündigte Person darf wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann (Art. 397a Abs. 1 ZGB). Sowohl für die Einweisung als auch für die Zurückbehaltung in einer Anstalt sind die Prinzipien der Verhältnismässigkeit und der Subsidiarität zu berücksichtigen. Vorausgesetzt ist mit anderen Worten, dass die betroffene Person infolge der im Gesetz umschriebenen Schwächezustände persönlicher Fürsorge bedarf, die ihr nur in einer Anstalt gewährt werden kann (BGE 114 II 213 E. 5 S. 217 f.). Die Verhältnismässigkeit einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung ist insbesondere bei einer erheblichen Selbstgefährdung gegeben, das heisst dann, wenn die betroffene Person - zum Beispiel mangels Einsicht in eine behandlungsbedürftige körperliche Krankheit oder aufgrund ihrer Suizidalität - ihre eigene Gesundheit oder ihr Leben ernstlich gefährdet (vgl. SPIRIG, Zürcher Kommentar, 1995, N 321 ff. zu Art. 397a ZGB). Zu berücksichtigen ist ferner die Belastung, welche die Person für ihre Umgebung bedeutet (Art. 397a Abs. 2 ZGB). Unter diesem Gesichtspunkt ist auch einer allfälligen Fremdgefährdung Rechnung zu tragen. Eine solche liegt vor, wenn die betroffene Person zum Beispiel wegen ihres aggressiven oder gefährlichen Verhaltens eine Gefahr für Leib und Leben von Drittpersonen darstellt (vgl. Urteil 6B_786/2008 vom 12. Mai 2009 E. 2.2) oder sonst wie das Wohlbefinden und die seelische Gesundheit anderer auf erhebliche und elementare Weise beeinträchtigt (SPIRIG, a.a.O., N 350 zu Art. 397a ZGB). Art. 397a Abs. 3 ZGB schliesslich schreibt ausdrücklich vor, dass die von der fürsorgerischen Freiheitsentziehung betroffene Person entlassen werden muss, sobald ihr Zustand es erlaubt.

3.

Nach den Ausführungen der Vorinstanz leidet der Beschwerdeführer an einer bipolar-affektiven Störung. Er stellt weder die tatsächlichen Feststellungen über seinen Gesundheitszustand (BGE 81 II 263) noch die rechtliche Qualifikation dieses Zustandes als Geistesschwäche im Sinne von Art. 397a Abs. 1 ZGB in Frage, so dass sich weitere Ausführungen zu diesem Punkt erübrigen.

4.

Der Beschwerdeführer macht geltend, die Verweigerung der Entlassung aus dem fürsorgerischen Freiheitsentzug sei unverhältnismässig.

4.1 Unter Hinweis auf die ärztlichen Gutachter erwog die Rekurskommission, der Beschwerdeführer sei auch noch zum jetzigen Zeitpunkt behandlungsbedürftig, wobei die Behandlung nicht durchgeführt werden könne, weil er sich gegen eine medikamentöse Behandlung kategorisch zur Wehr setze, obwohl er eingestanden habe, hypomanisch zu sein. Seine hypomanisch bedingten Auffälligkeiten hätten auf der Station kurzfristig zu einer schweren Störung des Zusammenlebens geführt. Die Gutachter befürworteten denn auch eine Entlassung des Beschwerdeführers, sobald die Wohnsituation in B.________ soweit geregelt sei, dass die krankheitsbedingten Probleme deutlich abklängen; bis zur Klärung der zukünftigen Wohnsituation und der festzulegenden Anschlussbehandlung erachteten die Gutachter die Klinik als richtigen Aufenthaltsort. Der Beschwerdeführer verfüge noch immer über keinen konkreten Lösungsansatz für seine Wohnsituation. Dieser wolle zwar weiterhin in dem von seiner Ex-Frau bewohnten Haus in B.________ arbeiten, aber nicht darin wohnen. Seine weiteren Pläne (Studium an der Universität in London, Wegzug auf die Philippinen) seien zu wenig konkret und nicht nachvollziehbar. Bei einem Kollegen könne er sodann nur vorübergehend wohnen. Von einer Lösung der Wohnsituation könne mithin keine Rede sein. Weil der Beschwerdeführer sich einer medikamentösen Behandlung verweigere, müsse im Falle einer Entlassung mit erneuten Eskalationen, insbesondere gegenüber der im selben Haus lebenden Ex-Frau gerechnet werden - die Rede ist von unsinnigen Holzbestellungen, von Katzenstreu auf dem Vorplatz und dem Auto der Mieter, von Asche auf dem Vorplatz, vom Zerbrechen der Blumentöpfe der Ex-Frau und vom Treten gegen Autotüren -, so dass er unweigerlich wieder in den Zustand geraten würde, der zu seiner Einweisung geführt habe. Dass die Familien- und Wohnsituation geklärt werden müsse, sei auch daraus ersichtlich, dass der Beschwerdeführer seiner Familie beim Familiengespräch in der Klinik nicht ohne seine Beiständin habe gegenübertreten wollen. Er stelle nach wie vor eine grosse Belastung für sein soziales Umfeld dar. Dementsprechend erscheine eine Entlassung in das noch unvorbereitete Umfeld als verfrüht. Sobald die Wohnsituation geklärt und die ambulante Nachbetreuung aufgegleist sei, könne der Beschwerdeführer jedoch entlassen werden.

4.2 Die Rekurskommission stellt keine konkrete Selbstgefährdung fest. Im Ergebnis begründet sie die - vorübergehende - Verweigerung der Entlassung des Beschwerdeführers aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung damit, der Beschwerdeführer sei eine Belastung für sein sozialen Umfeld, namentlich für seine Ex-Frau). Weil und solange er eine medikamentöse Behandlung verweigere, sei mit einer solchen Belastung zu rechnen, falls er an seinen bisherigen Wohnort, das heisst ins Haus zurückkehre, in welchem auch seine Ex-Frau wohne.

Bei Vorliegen des gesetzlich vorausgesetzten Schwächezustandes ist die Belastung des sozialen Umfeldes ein Kriterium, das bei der Anordnung einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung und der Entlassung aus derselben berücksichtigt werden darf (Art. 397a Abs. 2 ZGB; vgl. SPIRIG, a.a.O., N 340 zu Art. 397a ZGB; GEISER, Basler Kommentar, 4. Aufl. 2010, N 26 zu Art. 397a ZGB). Die genannte Bestimmung schützt namentlich die Familie des Betroffenen, aber auch Nachbarn und Hausgenossen, mithin auch die im gleichen Haus wohnende Ex-Frau und weitere Nachbarn. Indes stellt nicht jede Belästigung auch eine Belastung im Sinne des Gesetzes dar. Vielmehr geht es um elementare Gefährdungen des Wohlbefindens und der seelischen Gesundheit (SPIRIG, a.a.O., N 350 zu Art. 397a ZGB). Insgesamt hat die Umgebung ein hohes Mass an Belastung zu (er)tragen. Die Grenze des zu Duldenden liegt dort, wo die Belastung erheblich und letztlich - z.B. zufolge gesundheitlicher Gefährdung - unzumutbar erscheint (SPIRIG, a.a.O., N 354 zu Art. 397a ZGB). Geringfügige Belästigungen können zufolge Wiederholung zu erheblichen werden.

Die Gefährdungsmeldung der Tochter, auf welche die Rekurskommission Bezug nimmt, enthält in der Tat eine ansehnliche Liste von Vorfällen, die sich nach dem gesunden Menschenverstand ausserhalb des Üblichen und Vertretbaren bewegen. Die Kumulation dieser Ereignisse stösst hart an die Grenzen des Erträglichen. Indes ergeben sich aus dem angefochtenen Urteil keine Anhaltspunkte, weshalb die Belastung insgesamt geradezu unzumutbar sein soll.

4.3 Ist aufgrund der von der Vorinstanz festgehaltenen tatsächlichen Gegebenheiten aber nicht konkret zu befürchten, dass der Beschwerdeführer bei einer Entlassung aus der Klinik sich selbst oder andere in erheblichem Mass gefährden oder für seine Umgebung eine unzumutbare Belastung darstellen würde, erscheint die Verweigerung der Entlassung in der Tat als unverhältnismässig. In diesem Punkt ist die Beschwerde begründet. Daher ist die Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Urteils aufzuheben und das Psychiatriezentrum A.________ anzuweisen, den Beschwerdeführer nicht gegen seinen Willen zurückzubehalten.

Das Bundesgericht nimmt allerdings Kenntnis von den Absichtserklärungen des Beschwerdeführers, wie er sie gegenüber der Rekurskommission und in seiner Beschwerdeschrift abgegeben hat. Erwähnt seien namentlich die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Wiederinkraftsetzung des Vertrages mit dem Psychiatriezentrum A.________ und die Aussage, er wolle nicht mehr in B.________ wohnen. Diese Erklärungen zeigen eine gewisse Einsicht des Beschwerdeführers, und es verbleibt abzuwarten, ob sie auch in die Tat umgesetzt werden.

5.

Bei diesem Ausgang verliert die Gehörsrüge des Beschwerdeführers, wonach ihm der vollständige Inhalt der Gefährdungsmeldung seiner Tochter erst nach der Rekursverhandlung übergeben worden sei, an Relevanz; darauf ist nicht weiter einzugehen.

6.

Nach dem Gesagten obsiegt der Beschwerdeführer. Auf die Erhebung von Kosten wird verzichtet (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Beschwerdeführer sind keine entschädigungspflichtigen Aufwendungen entstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

In Gutheissung der Beschwerde wird die Ziffer 1 des Entscheides des Obergerichts des Kantons Bern, Zivilabteilung, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen, vom 19. März 2012 aufgehoben und das Psychiatriezentrum A.________ angewiesen, den Beschwerdeführer nicht zurückzubehalten.

2.

Es werden keine Kosten erhoben oder gesprochen.

3.

Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Regierungsstatthalteramt Obersimmental-Saanen und dem Obergericht des Kantons Bern, Zivilabteilung, Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. April 2012

 

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