TagesAnzeiger
Paris nutzt die Angst vor Terroranschlägen, um ein Gesetz im Eilverfahren zu verabschieden.
Unmittelbar nach den Terrorattacken im Januar auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» und den koscheren Supermarkt in Vincennes waren sich die Franzosen einig: Frankreich darf unter keinen Umständen in die Falle der Totalüberwachung tappen. Die wenigen, die sofort nach strengerer Überwachung schrien, wurden schnell von der Menschenmenge überstimmt, die auf den «Ich bin Charlie»-Demonstrationen skandierte: «Wir haben keine Angst.» Doch nun nutzt die französische Regierung die Angst vor weiteren Terroranschlägen, um ein Gesetz im Eilverfahren zu verabschieden, das den Geheimdiensten eine Totalüberwachung der Bürger, vor allem von Ausländern, erlaubt: Personen, die keinen festen Wohnsitz in Frankreich haben, werden in Zukunft komplett vom französischen Geheimdienst überwacht werden können. Das sieht das neue Abhörgesetz vor, das am Mittwoch erst vom Parlament, tags darauf vom Senat verabschiedet werden soll.
Damit bekommt Frankreich, wovor Politiker, Juristen und Journalisten seit Wochen warnen: einen Patriot Act à la française. Kritisiert worden war nicht nur der Gesetzesentwurf, sondern vor allem das Gesetzgebungsverfahren, mit dem er durch Nationalversammlung und Senat gejagt wurde, um die Verabschiedung noch vor der Sommerpause zu erreichen. Das Schnellverfahren führte gar noch zu weiteren Verschärfungen, auf die sich eine parlamentarische Vermittlungskommission verständigte. Das Gesetz macht jetzt explizit den Unterschied zwischen Personen, die ihren Wohnsitz im Land haben, und Ausländern, die nur auf Durchreise sind. Im Klartext heisst das: Die Geheimdienste können Gespräche von Diplomaten abhören, Mikros in Hotelzimmern von ausländischen Firmenchefs installieren oder die Festplatten von ausländischen Journalisten anzapfen, sobald sie Frankreichs vitale Interessen in Gefahr sehen.
Intellektuelle schlagen Alarm
Zu diesen gehören die «Sicherheit der Nation», die «nationale Unabhängigkeit», «übergeordnete aussenpolitische», «übergeordnete industrielle und wissenschaftliche» Interessen, mithin: fast alles, was jemand in diese Richtung interpretieren möchte. Der Justiz werden Kontrollmöglichkeiten eingeräumt, die Exekutive soll entscheiden dürfen.
In einem Gastbeitrag in der Zeitung «Le Monde» haben sich am Wochenende neun französische Intellektuelle zu Wort gemeldet, um den französischen Patriot Act zu verhindern. Im Namen der Sicherheit, so die Autoren, würden Entscheidungen, die zuvor Richtern oblagen, den Geheimdiensten überlassen: «Wir appellieren an alle in Frankreich und anderswo auf der Welt, die nicht länger auf totalitäre und antidemokratische Weise regiert werden wollen, ihre Stimme gemeinsam zu erheben.» Der Appell ist unter anderem unterschrieben von den Philosophen und Soziologen Giorgio Agamben, Etienne Balibar, Luc Boltanski und dem Verleger Eric Hazan. Selbst Frankreichs Innenminister, Bernard Cazeneuve, erklärte am Freitag, gegen die offenkundige Diskriminierung des Gesetzestextes zu sein: «Wir können keinen Unterschied machen zwischen französischen Bürgern und Ausländern auf unserem Boden», sagte der Innenminister.
Als einzige Kontrollinstanz sieht das Gesetz eine «Commission nationale de contrôle des techniques de renseignement» (CNCTR) vor. Sobald der Premierminister einen Überwachungsantrag genehmigt hat, soll dieser innerhalb von 24 Stunden von der Kommission überprüft werden. Bei Personen, die keinen festen Wohnsitz in Frankreich haben, muss die Kontrollinstanz nicht informiert werden. «Die Nachrichtendienste können mit Ausländern, die auf Durchreise sind, machen, was sie für richtig halten», warnt Jean-Marie Delarue, Präsident der «Commission national de contrôle des interceptions de sécurité» (CNCIS), die durch die neue Kommission ersetzt werden soll.
Offiziell soll das Gesetz der Arbeit der Geheimdienste einen rechtlichen Rahmen geben. In einem Bericht hatte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss bereits 2014 bemängelt, dass Frankreich «die einzige westliche Demokratie ist, die über keinen Gesetzesrahmen für ihre Geheimdienste verfügt und ihre Agenten einem legalen Vakuum aussetzt, das die freiheitlichen Grundrechte der Bürger potenziell bedroht».
Internetfirmen drohen
Nun warne selbst die «New York Times» vor der Schärfe des geplanten Gesetzes, schreiben die Unterzeichner des Appells. Die amerikanische Zeitung habe gefragt: «Hat Frankreich jetzt seinen Big-Brother-Moment?» Und hinzugefügt: «Wenn Amerikas Konservative Frankreich loben, dann ist irgendetwas faul.»
Derweil drohen die ersten Internetkonzerne mit Abwanderung. Schliesslich ist die umstrittene Vorratsdatenspeicherung in Frankreich längst erlaubt, alle Verbindungsdaten werden gespeichert und bei Bedarf von den Geheimdiensten eingesehen. In Zukunft sollen sich allerdings auch die Internetanbieter an diesem Spiel beteiligen und mithilfe von sogenannten Blackboxes Kommunikationsdaten in Echtzeit nach bestimmten Algorithmen überprüfen. Aufgrund dieser Raster wird dann entschieden, wer überwacht werden soll.
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