Anpassung an die neue Bedrohungslage

28. Juni 2016

Daniel Gerny, NZZ

Heute darf der Nachrichtendienst keine Telefonate abhören. Jahrzehnte nach der Fichenaffäre entscheidet das Volk über einen Ausbau der Überwachung. Einige Punkte sind besonders umstritten.

Am 6. Juni 2013 berichtete der britische «Guardian» zum ersten Mal über das gigantische Ausmass der Überwachung durch den Geheimdienst NSA. Die Enthüllungen, die auf Informationen des einstigen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden basieren, sorgten weltweit für Bestürzung: Auch befreundete Staaten wurden systematisch abgehört. Die Dimension beim Ausbau des amerikanischen Sicherheitsdispositivs nach den Anschlägen vom 11. September sorgte für breite Debatten darüber, wie weit Geheimdienste gehen dürfen. In der Schweiz fiel diese Auseinandersetzung mitten in das Seilziehen um ein neues Nachrichtendienstgesetz (NDG). Die Snowden-Enthüllungen und die wiederholten Anschläge - sie prägten die Debatte um das neue Gesetz von Anfang an.

Verwanzen, Orten, Abhören

Denn in der Schweiz sind die Instrumente der Nachrichtendienste im Vergleich zu den Praktiken der USA heute geradezu harmlos: Nicht einmal das Abhören von Telefongesprächen ist hierzulande zur Prävention von Terroranschlägen erlaubt. Diese Zurückhaltung ist eine Folge des Fichenskandals, der das Land vor einem Vierteljahrhundert erschüttert hat und die Gesetzgebung über zwei Jahrzehnte prägte. Noch 2009 wiesen die eidgenössischen Räte eine Vorlage zum Ausbau sogenannter «besonderer Mittel zur Informationsbeschaffung» zurück. Vor allem die Angst vor dem Terrorismus bewirkte dann aber ein Umdenken. Anschläge in europäischen Städten zeigten, wie die Bedrohung näher rückte. Pikanterweise führte aber auch der Snowden-Skandal zur Schlussfolgerung, die nachrichtendienstliche Tätigkeit dürfe nicht blindlings ausländischen Interessen und Organisationen überlassen werden.

Praktisch alle Instrumente, die vor wenigen Jahren vom Parlament noch zurückgewiesen wurden, sind nun im neuen Gesetz enthalten. Dazu gehörten die Überwachung des Post- und Telefonverkehrs, die Ortung von Personen oder Fahrzeugen, das Verwanzen von privaten Räumen und Büros, verdeckte Hausdurchsuchungen oder das Eindringen in Computer und Netzwerke. Die Einführung dieser Massnahmen bedeute einen Paradigmawechsel gegenüber dem heutigen Recht. Der politische Widerstand gegen das Gesetz ist vor allem auf diesen Wandel zurückzuführen. Der Bundesrat relativiert aber die zahlenmässige Bedeutung dieser einschneidenden Form von Überwachung: Bei der heutigen Bedrohungslage seien in rund zehn Fällen pro Jahr solche Massnahmen erforderlich, schrieb der Bundesrat - wobei diese Schätzung aber von 2014 stammt.

Umstrittene Kabelaufklärung

Das Gesetz versucht einer ausufernden Überwachungstätigkeit in zweierlei Hinsicht entgegenzuwirken. Einerseits dürfen diese Instrumente nur eingesetzt werden, wenn eine konkrete und schwere Bedrohung für die innere oder äussere Sicherheit beispielsweise durch Terrorismus, Proliferation oder einen Angriff auf die lebensnotwendige Infrastruktur dies erfordert. Die Bedrohung durch gewalttätigen Extremismus - etwa von links- oder rechtsradikalen Kreisen oder Hooligans - reicht nicht aus. Zudem benötigt der Nachrichtendienst die Genehmigung des Bundesverwaltungsgerichts sowie die Freigabe durch den VBS-Vorsteher und den Sicherheitsausschuss des Bundesrates. Massnahmen, die weniger weit gehen, müssen zudem entweder bereits erfolglos eingesetzt worden sein oder aber aussichtslos sein.

Umstritten ist ausserdem die sogenannte Kabelaufklärung: Damit soll der grenzüberschreitende Internetverkehr auf Stichworte hin untersucht werden können, mit dem Ziel, Cyberspionage fremder Staaten oder Hackerangriffe zu entdecken. Das Problem ist, dass davon eine sehr grosse Zahl von Nutzern betroffen ist, weil ein grosser Teil der Internetkommunikation über ausländische Server und Netzwerke führt. Die Snowden-Enthüllungen zeigten, was in diesem Bereich möglich ist. Das Nachrichtendienstgesetz versucht deshalb, den Anwendungsbereich einzuschränken, indem beispielsweise Angaben über schweizerische natürliche oder juristische Personen als Suchbegriffe nicht zugelassen werden. Verboten ist die Kabelaufklärung ausserdem, wenn sich sowohl der Sender als auch der Empfänger in der Schweiz befinden. Die Kabelaufklärung wird überdies der unabhängigen Kontrollinstanz unterstellt.

Das neue Gesetz sieht aber auch sogenannt bewilligungsfreie Überwachungsmassnahmen vor, wie sie schon heute erlaubt sind. Dazu gehören Beschattungen im öffentlichen Raum oder die Nutzung von öffentlichen Informationsquellen wie den Medien oder amtlichen Registern. Auch auf Informanten und Spitzel darf der Nachrichtendienst zurückgreifen. Mitarbeiter des Nachrichtendienstes können überdies mit einer anderen Identität ausgestattet werden. Und schliesslich ist in der Vorlage auch die Aufsicht über den Nachrichtendienst neu geregelt: Weil der Dienst mehr Kompetenzen erhält, hat das Parlament die Aufsicht verstärkt und eine neue unabhängige Aufsicht geschaffen. Diese soll die Aktivitäten des Nachrichtendienstes auf ihre Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit überprüfen.

Vereinigte Geheimdienste

Das Nachrichtendienstgesetz führt die bis anhin in zwei getrennten Erlassen enthaltenen Vorschriften für die Informationsbeschaffung im In- und im Ausland zusammen. Dies ist eine Folge des Anfang des Jahrzehnts vollzogenen Zusammenschlusses des auf die Informationsbeschaffung im Ausland fokussierten Strategischen Nachrichtendienstes (SND) und des Dienstes für Analyse und Prävention (DAP), der sich aufs Inland konzentrierte. Heute lassen sich die innere und die äussere Sicherheit nicht mehr klar trennen - dies zeigt sich zur Zeit beispielsweise im Zusammenhang mit der Bedrohung durch Jihad-Reisende. Ähnliches gilt auch für Angriffe im Cyberspace. Der neu geschaffene Nachrichtendienst des Bundes hat beide Bereiche übernommen.

Gegner warnen vor willkürlicher Überwachung

Am Montag haben die Gegner des Nachrichtendienstgesetzes ihre Argumente präsentiert. Das «Bündnis gegen den Schnüffelstaat» warnte vor «massiven Eingriffen in die Privatsphäre». Trotz wachsender Angst vor Terroranschlägen müsse massgehalten werden. Man dürfe sich diesbezüglich auch keinen falschen Illusionen hingeben, sagte Nationalrat Balthasar Glättli (gp., Zürich). Sämtliche an den jüngsten Anschlägen Beteiligte seien polizeilich oder nachrichtendienstlich bekannt gewesen. Trotzdem hätten die Anschläge nicht verhindert werden können. «Sie finden die Nadel im Heuhaufen nicht besser, wenn Sie den Heuhaufen grösser machen», so Glättli. Viktor Györffy, Präsident des Vereins grundrechte.ch, sagte, es sei eine Illusion, dass sich die Geheimdiensttätigkeit durch eine richterliche oder parlamentarische Kontrolle begrenzen liesse. Der Nachrichtendienst operiere auf der Basis von Vermutungen und könne jeden Bürger zum potenziellen Terroristen «emporstilisieren». Die Richter würden sich dann der Überwachung nicht verschliessen. Bei der Kabelüberwachung (siehe Haupttext) müssten zudem alle Bürger damit rechnen, dass ihre gesamte Kommunikation über das Internet ohne konkreten Anlass mitgeschnitten werde. Auch der Ausbau der Zusammenarbeit mit ausländischen Partnerdiensten gibt den Gegnern Anlass zur Kritik. Dies berge klare Sicherheitsrisiken, zumal nicht bekannt sei, mit welchen Partnern der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) Daten austausche, sagte Glättli. Es werde für die Schweiz damit auch schwieriger, gegen Wirtschaftsspionage solcher «befreundeter» Länder vorzugehen. Das mögliche Eindringen des NDB in Computersysteme im Ausland könne zudem gar als «kriegerische Handlung» verstanden werden. Die Gegner warnten auch vor den Staatstrojanern. Trojaner nutzten Sicherheitslücken, für welche es einen Schwarzmarkt gebe. Durch den Kauf von Trojanern unterstütze der Staat diesen Schwarzmarkt und fördere damit das organisierte Verbrechen.

 

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