Von Salvador Atasoy, Sonntags Zeitung
GENF Lang wurde spekuliert. Nun ist klar: Die USA liessen auf Schweizer Boden spionieren. Über Jahre. Unter Missachtung der Schweizer Gesetze. Und gegen direkte Anweisungen des Bundesrates. Das zeigen Dokumente, die der SonntagsZeitung vorliegen. Von 2005 an - und möglicherweise bis heute - observierten Agenten in Genf Konsulate, Missionen und UNO-Einrichtungen im Umkreis von einem Kilometer zur US-Mission. Nun reagiert die Bundesanwaltschaft. Am Donnerstag hat sie ein Strafverfahren eröffnet (s. Kasten).
Die US-Regierung schrieb den Auftrag 2005 aus. Online, für jeden einsehbar. Gesucht wurden «Sicherheitsspezialisten» für die US-Mission in Genf. «Wer etwas vom Fach versteht, dem war klar, dass es hier um Ermittlungsarbeit auf Schweizer Boden geht», sagt ein Brancheninsider im Gespräch mit der SonntagsZeitung. Die Arbeitsinstruktionen seien derart detailliert, dass sie ein ganzes Ringbuch füllten. Und sie verstiessen reihenweise gegen Schweizer Gesetze - etwa gegen Artikel 271: «Verbotene Handlungen für einen fremden Staat.»
Die Suite 911 am Crystal Drive in Arlington ist berüchtigt
Schon die Finanzierungsströme machen klar, worum es geht. Bezahlt wurde der Auftrag über eine Firma in einem Bürohochhaus in Arlington, Virginia. Über die Adresse am Crystal Drive laufen grosse Rüstungsaufträge. Allein die Suite 911 im 9. Stock vergab seit den Anschlägen vom 11. September 2001 Aufträge im Wert von mehr als 50 Milliarden Dollar. Suite 911 ist in Geheimdienstkreisen berüchtigt. Von hier aus finanzieren die USA weltweit Überwachungs- und Spionagemissionen. Auch in der Schweiz.
Von Arlington führt die Spur nach Carouge bei Genf. Versteckt zwischen Wohnblöcken liegt das Büro einer Sicherheitsfirma. Rund eine Million Dollar zahlten die Amerikaner pro Jahr für die Spionagedienste, das belegen die US-Verträge, die der SonntagsZeitung vorliegen. Die Regierungsdokumente tragen den Vermerk «Intelligence Services» - Geheimdienstarbeit.
Die SonntagsZeitung hat mit zwei Ex-Agenten der Firma gesprochen: Mit Jane* und John Doe*. Von 2006 bis 2011 waren sie im Auftrag der Amerikaner auf Schweizer Boden aktiv. Sie erzählen, wie sie Konsulats- und UNO-Gebäude, Bundeseinrichtungen und internationale Organisationen observierten. «Wir nennen das klassische Ermittlungsarbeit», so Jane. Acht Personen umfasste das sogenannte Surveillance Detection Team (SDT). «Ausgerüstet waren wir mit Videokameras, Aufnahmegeräten und Funk», ergänzt John. Unter anderem hätten sie in Zivil «Menschen, Autos und Gebäude in einem Umkreis von einem Kilometer zur US-Mission» beschattet und abgehört. «Ausgerüstet mit Autos, Scootern und Tramtickets», sagt Jane. «Was tut sich bei anderen Behörden? Wer gehört nicht in die Gegend, wer verhält sich auffällig?»
Ihre Ergebnisse meldeten sie ins Innere der US-Mission. «Dort wurden weitere Abklärungen getroffen, etwa Background-Checks. Aber da wurde unser Team nicht mehr rangelassen», sagt John. Die Daten landeten nach Informationen der SonntagsZeitung in riesigen Datenbanken. Unter anderem in Simas, einem Analysesystem der US-Nachrichtendienste. In diesem globalen Fichennetzwerk dürften auch mehrere Tausend Schweizer registriert sein.
Die Verstösse gegen Schweizer Recht sind gravierend. Das zeigt das eingeleitete Strafverfahren der Bundesanwaltschaft. Im Zentrum steht Artikel 271 - «Verbotene Handlungen für einen fremden Staat». Hier muss der Bundesrat entscheiden, ob die Bundesanwaltschaft ermitteln darf. Ein entsprechendes Gesuch hat die Bundesanwaltschaft am Freitag gestellt.
Den Amerikanern muss klar gewesen sein, dass sie gegen Schweizer Gesetze verstiessen. 2006 versuchten sie, das SDT per Gesuch beim Bundesrat zu legalisieren. Bewilligt werden sollte ein Team in der Nähe der US-Botschaft, das verdächtige Ereignisse im Zusammenhang mit möglichen Terroranschlägen meldet. 2007 wiederholten sie die Eingabe. Der Bundesrat lehnte beide Gesuche mit dem Hinweis auf «mangelnde gesetzliche Grundlage» ab. Da waren Jane und John längst im Einsatz.
In der Folgezeit liess der Bund die Situation mehrmals vor Ort von der Kantonspolizei Genf überprüfen. Das bestätigt das Bundesamt für Polizei (Fedpol). Dabei wurden «keine entsprechenden Aktivitäten festgestellt, die bewilligungspflichtig wären». Jane und Joe blieben unentdeckt. Ab 2010 befasste sich die Geschäftsprüfungsdelegation des Bundes mit dem SDT. Auch hier lautete das Resultat: «Es besteht kein weiterer Handlungsbedarf», die Schweizer Regierung habe die USA ja bereits informiert.
«Unsere Entlassung muss nichts heissen»
2010 schreibt das Fedpol: «Im Herbst 2010 gab es Hinweise, dass die US-Mission in Genf ein neues Observationserkennungsprogramm unterhält.» Von «neu» könne keine Rede sein, sagen Jane und John Doe. «Es blieb alles beim Alten.» Das zeigen auch die Verträge.
Im Mai 2011 reagierte das Aussendepartement. In den Worten des Fedpol: «Die Schweiz hat bei den entsprechenden US-Aussenstellen interveniert, auf die Gültigkeit der ablehnenden Entscheide von 2007 verwiesen und die Einstellung allfälliger Aktivitäten gefordert.» Mitgeteilt wurde dies mittels Diplomatischer Note. Ob und welche Beweise die Schweizer Behörden für das Programm der Amerikaner hatten, ist nicht bekannt. Entsprechende Anfragen blieben unbeantwortet.
Die diplomatische Note zeigte übrigens Wirkung, wie Jane und John Doe bestätigen. «Wir wurden sofort entlassen.» Doch das müsse nichts heissen. Die Taktik sei bekannt. «Es kann gut sein, dass die USA den Auftrag einfach neu vergeben haben.»
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